Magical
gebaut hatte, als ich fünf war, und las Jahrmarkt der Eitelkeit (den Roman von Thackeray, den Dad mir gekauft hatte, nachdem ich den Mund endlich wieder zubekommen hatte). Dabei wartete ich auf Lisette, aber eigentlich wartete ich gar nicht. Mutter sagte, ich sei zu alt für das Baumhaus und dass es die Gartenlandschaft verschandele. Es war Dad, der sagte, wir könnten es auchbehalten, außerdem war er immer viel zu beschäftigt, es abzureißen, wenn Mutter sich darüber beschwerte. Ich ging gern dorthin, um zu lesen. Und um mich zu verstecken.
An diesem Tag machte ich beides. Und ich spionierte Lisette aus. Mutter war nicht da, obwohl sie Daddy versprochen hatte, dass sie zu Hause sein würde. Sie wollte, dass ich mit ihr komme, aber ich sagte, ich hätte Hausaufgaben. Ich wollte Lisette sehen. Seit meinem Gespräch mit Daddy fragte ich mich, wie Lisette wohl aussah. War sie hübsch? Hübscher als ich? Größer? Dünner? Ich hoffte, sie wäre ebenfalls unscheinbar, damit wir Freundinnen sein konnten. Sah sie aus wie mein Vater? Würde er sie mehr mögen als mich? Würde sie mich für eine Streberin halten? Würden wir wie Schwestern sein?
Ich spähte zwischen den Zweigen hindurch. Lisette schleppte die schwarze Tüte über den hellgrünen Rasen. Wer immer sie hergebracht hatte, bot ihr keine Hilfe an. Der Motor sprang an und das Auto war weg, noch bevor Lisette den halben Weg zur Haustür zurückgelegt hatte.
Sie hielt den Kopf gesenkt, sodass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Was ich dafür sehen konnte, war ihr Haar. Es war goldblond wie das von Prinzessin Aurora bei dem Disneyfiguren-Frühstück, das wir in den Ferien besucht hatten, und es fiel ihr in Wellen bis zur Hüfte. Meine Finger fuhren verstohlen durch meine Krause. Sie trug ein schwarzes Kleid, das ihr zu klein war, und schwarze Sportschuhe, die ihr zu groß waren, aber trotz allem konnteich sehen, dass sie dünn war, dünn und graziös wie eine Ballerina. Sie blieb stehen, um ein Loch in der Tasche zu untersuchen, aus dem etwas heraushing, ein Stückchen saphirblauen Stoffes. Sie streckte die Hand aus, um es wieder hineinzustopfen, stattdessen ließ sie jedoch ihre Finger dort verweilen, und das war der Moment, in dem sie anfing zu schluchzen.
Etwas Schwarzes flog am Rand meines Sichtfeldes vorbei. Ich drehte den Kopf und sah, dass es ein Truthahngeier war. Eigentlich waren es zwei, die sich auf etwas Totes, das auf der Straße lag, stürzten.
Ich hätte Lisette begrüßen oder mich zumindest vorstellen sollen. Das wäre das Normalste der Welt gewesen. Aber ich wollte den Zeitpunkt, an dem ich Lisettes Stiefschwester wurde, hinauszögern.
Solange ich Lisette nicht begegnete, konnte alles beim Alten bleiben. Alles wäre möglich. Mein Vater würde noch immer mich am meisten mögen, auch wenn Lisette seine leibliche Tochter war. Ich konnte mir immer noch vorstellen, dass Lisette und ich beste Freundinnen wurden. Solange ich im Baumhaus blieb, bestand noch die Möglichkeit, dass Lisette mich mochte. Doch sobald ich mich ihr näherte, wäre dies alles zu Ende. Ein Blick auf mich, mit meinen krausen Haaren und den Sommersprossen, und sie würde merken, dass es sich nicht lohnte, mich kennenzulernen, genau wie die Mädchen in der Schule.
Ich senkte meinen Kopf tiefer und las weiter, von Amelia Sedley und Becky Sharp, die beste Freundinnen waren, obwohl Becky böse war, und von Dobbin, dem Sohn des Gemüsehändlers, der sich in die schwächliche, tugendhafte Amelia verliebt hatte und zu ihr stand, obwohl sie seinen nichtsnutzigen Freund George heiratete. Insgeheim war ich in Dobbin verliebt und stellte mir ihn wie Warner Glassman vor. Das Buch hatte achthundert Seiten und ich las es seit Sonntag schon zum zweiten Mal.
Und das würde Lisette bestimmt total komisch finden.
Jeder würde das komisch finden. Die meisten Kinder in der Schule, selbst die in der Streberklasse, in der ich war, lasen keine Bücher, die nicht vorgeschrieben waren, schon gar keine Klassiker. Manchmal versuchte ich, so zu tun wie sie, ich zwang mich dazu, eine Seventeen oder eine Elle in meine Mappe zu stecken und die Zeit vor dem Unterricht mit SMS -Schreiben zu verbringen. Aber zur Mittagszeit war ich dann immer im Medienzentrum und bat wie eine Drogensüchtige um etwas von den Brontë-Schwestern oder Jane Austen. Es war erbärmlich.
Ich drückte fest mein Gesicht gegen die glatten Bretter der Baumhaustür und schaute von oben zu, wie sie weinte.
Mutter und Daddy hatten
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