Magical
die ganze Woche weitergestritten, und ich hatte gelesen und gelesen, um das Geschrei auszublenden, aber es hatte nicht immer funktioniert.
»Es muss noch einen anderen Ort geben«, hatte Mutter gesagt.
»Das hatten wir doch schon. Auf Nicoles Seite gibt es keine Verwandten.«
»Dann eben auf deiner Seite. Vielleicht kann sie zu deiner Mutter ziehen.«
»Ach, hör schon auf. Meine Mutter ist achtzig.«
»Es gibt noch andere Möglichkeiten außer den Verwandten.«
»Hör auf damit, Andrea. Ich stecke doch meine eigene Tochter nicht in eine Pflegefamilie, nur weil es dir behagt.«
»Nicht weil es mir behagt, sondern weil es sicherer ist. Wer weiß, wie dieses Mädchen aufgezogen wurde. Sie könnte Drogen nehmen oder … Schlimmeres. Aber vielleicht ist dir Emma ja nicht so wichtig.«
»Natürlich ist mir Emma wichtig. Ich habe mich stets um deine Tochter gekümmert.«
Deine Tochter. Die Worte meines Vaters bohrten sich wie Eissplitter in mein Herz.
»Außerdem bin ich mir sicher, dass Nicole sie gut erzogen hat. Sie war schon immer eine vernünftige Frau.«
»Anders als ich, nehme ich an.«
»Wer hat gesagt … ach, egal. Ich weiß, dass du noch zur Einsicht kommen wirst. Das Mädchen wird bei uns wohnen, und damit basta.«
Dann knallte eine Tür zu.
Ich war klug genug gewesen, Mutter keine weiteren Fragen zu stellen, aber am Tag zuvor war sie ohne anzuklopfen in mein Zimmer gekommen und hatte sich aufmein Bett gesetzt. Sie hatte mir den Arm um die Schultern gelegt und gesagt: »Mach dir keine Sorgen, Emma. Das ist nur vorübergehend. Dein Vater liebt dich. Wir lassen nicht zu, dass sich das durch irgendetwas ändert.«
Genau da bekam ich plötzlich Angst, dass sich tatsächlich etwas ändern könnte.
Jetzt starrte ich auf Lisette hinunter. Noch immer konnte ich ihr Gesicht nicht sehen. Sie hatte das Stück Stoff aus ihrer Tasche gezogen. Es war ein Schal. Sie roch mit einem tiefen Atemzug daran, bevor sie ihn sich um die gebeugten Schultern legte. Sie verknotete die kaputte Tüte und zog sie das letzte Stück bis zur Türschwelle. Schuldgefühle nagten an mir, versuchten mich zu zwingen, mich ihr zu zeigen. Ich wusste, dass ich die Leiter hinunterklettern sollte. Das tat ich nicht. Meine Hände bewegten sich ruhelos in meinem Schoß. Ich riss eine Seite aus Jahrmarkt der Eitelkeit heraus, dann eine zweite. Erst als meine Hände so voll von zerknüllten, herausgerissenen Seiten waren, dass ich keine mehr halten konnte, hörte ich auf. Was tat ich da eigentlich?
Lisette klingelte an der Tür. Niemand öffnete. Sie klingelte noch ein paarmal, dann setzte sie sich auf die Mülltüte und weinte weiter – laute, quälende Schluchzer, die ihre Schultern erzittern ließen. Lange Zeit saßen wir so da, ich im Baumhaus, Lisette schluchzend vor der Tür.
Da ging mir zum ersten Mal auf, dass mein Vater ein Idiot war. Ein richtiger Volltrottel, der seine Frau und seine Tochter hatte sitzen lassen und sie nie wieder besuchthatte, genau wie mein eigener Vater. Lisette und ich saßen im selben Boot.
Schließlich war es still. Das war meine Chance, meine einzige Chance. Ich musste mich hinunterschleichen, solange sie nicht hinschaute.
Das Baumhaus knarrte, als ich mich auf den Weg nach unten machte. Statt auf die Veranda zuzugehen, wandte ich mich in die entgegengesetzte Richtung, zur Straße hin.
Gerade, als ich den Bürgersteig erreicht hatte, blickte sie auf. Sie starrte mir direkt ins Gesicht und lächelte durch Tränen.
In diesem Moment wusste ich, dass ich sie hasste.
Lisette war das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte, schöner als Courtney oder irgendein anderes der beliebten Mädchen in der Schule, schöner als meine Puppen. Sie sah wie eine Erwachsene aus, wie diese Nachrichtensprecherinnen im Fernsehen . Ihre Augen waren von demselben funkelnden Königsblau wie der Schal, und ihre Lippen waren voll und hatten einen Rotton, den mein Mund nur annahm, wenn ich Himbeersaft getrunken hatte. Ich wusste, dass die Mädchen in der Schule sie schon bald zu ihrer Königin machen würden, und dafür hasste ich sie umso mehr.
»Bist du Emma?«, fragte sie. Ich war wie gelähmt und konnte nur nicken.
»Oh, Gott! Ich bin so froh!« Sie erhob sich und kam auf mich zu. Ihr Blick fiel auf mein Buch. Ich hätte es im Baumhaus lassen sollen.
Doch Lisettes Augen wurden noch größer. »Wow, du liest das?« Als ich erneut nickte, sagte sie: »Du musst wirklich klug sein.«
Ich führte eine wirklich große
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