Magical
hier war der einzige Dad, den ich hatte.
Es war seine Idee gewesen, den Tag gemeinsam zu verbringen, als Daddy-Emma-Zeit, sogar ohne Mutter. Das wusste ich erst seit gestern Abend. Er war von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte mir erzählt, dass er Tickets für die Tour von Wicked bekommen hätte. Sie seien alle ausverkauft gewesen, bis auf die auf dem allerobersten Rang. Zumindest hatte Mutter das gesagt, als ich gebettelt hatte, das Musical sehen zu dürfen. Doch Dad erzählte mir, dass ihm einer seiner Klienten Karten für Plätze in der zweiten Reihe geschenkt hätte und dass er mich mitnehmen würde, als besondere Überraschung.
Insgeheim seufzte ich vor Erleichterung. Er und Mutter hatten die ganze Woche hinter verschlossenen Türen gestritten, hatten abwechselnd geflüstert und geschrien. Das Ganze wurde von Fernsehshows übertönt, die eindeutig keiner von ihnen schaute. Ich hatte im Wohnzimmer gesessen und hatte mir bei endlosen Wiederholungen von Full House Sorgen gemacht. Vielleicht hatte Mutter recht und sie ließen sich scheiden. Vielleicht würde ich so enden wie Kathleen, dieses Mädchen aus meiner Klasse, das auf der Hochzeit ihrer eigenen Mutter Blumenmädchen spielen musste. Vielleicht würde ich Dad verlieren. Ab und zu hörte ich meinen Namen. Mutter sagte etwas wie: »Und was ist mit Emma? Ich denke dabei an Emma.« Am Donnerstagabend hatte Daddy gesagt: »Ich werde nicht mehr länger darüber diskutieren, Andrea!« Und damit kehrte Ruhe im Haus ein.
Aber jetzt verstand ich. Darum war es in den geflüsterten Gesprächen also gegangen. Mutter war offenbar böse, weil sie selbst mit in das Musical gehen wollte, aber Daddy nahm mich mit. Mich!
Unsere Plätze waren so nah an der Bühne, dass ich sehen konnte, wie die Schauspieler beim Singen spuckten, und das Stück war perfekt gewesen – perfekt für mich, weil das hässliche Mädchen, das sonderbare Mädchen, das Mädchen, das niemand verstand, die Heldin war. Ich identifizierte mich mit Elphaba, der Außenseiterin, mal abgesehen von dem Teil mit den Zauberkräften. Perfekt war es auch deshalb, weil Daddy das begriffen und mir ermöglicht hatte, Wicked zu sehen. Er verstand mich besser, als mich meine Mutter je verstehen würde.
Nach der Matinée gingen wir essen, und obwohl ich einen Cheeseburger für Erwachsene bestellte und nicht das Kindermenü, zu dem mich Mutter im Namen der schlanken Linie gedrängt hätte, ließ mich Daddy obendrein noch einen Eisbecher bestellen. »Eine Mahlzeit ohne Eis ist keine richtige Mahlzeit«, hatte er gesagt, und ich hatte zugestimmt. Ich versuchte, langsam zu essen wie eine Lady, und auch damit der Tag länger dauern würde. Außerdem hatte ich ein neues, todschickes Kleid an, das ich nicht vollkleckern wollte. Dad fragte: »Worauf hast du jetzt Lust?«
»Jetzt?« Ein wenig Karamell tropfte auf meine Lippe und ich fing es rasch mit meiner Serviette auf. Mutter hätte mich als Ferkel bezeichnet, aber Dad zuckte nicht mit der Wimper.
»Klar. Ich habe deiner Mom schon gesagt, dass es spät wird. Sollen wir in die Spielhalle?
Die meisten Leute, die ich kenne, wären lieber dahin gegangen als sonst wohin, aber die Melodien aus Wicked gingen mir noch immer im Kopf herum und ich wollte sie nicht durch pulsierende Musik aus der Spielekonsole übertönen. Deshalb sagte ich: »Na, ich weiß nicht. Wollen wir stattdessen vielleicht lieber in die Buchhandlung?« Ich ging gern in den großen Buchladen. Dort suchte ich mir dann immer einen Stapel Romane aus und verbrachte eine Stunde oder mehr damit, sie mir bei einer Tasse Tee genauer anzuschauen. »Oder würdest du dich dann langweilen?«
Daddy grinste. »Nee, ich kann lesen. Wahrscheinlich haben die da sogar Magazine mit Bildern drin und so.«
»So habe ich es nicht gemeint.« In der Schule halten mich die anderen auch alle für einen Streber.
»Ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast, Pumpkin.« Er blickte zur Seite. »Hey, schau jetzt nicht hin, aber du hast einen Bewunderer.«
»Ja, klar.«
»Doch. Auf neun Uhr. Der Rotschopf schaut dich schon an, seit der Nachtisch gekommen ist.«
»Jungs schauen mich nicht an.«
»Sieh selbst.«
Ich schüttelte den Kopf. Eltern lebten an irgendeinem glückseligen Ort, wo alle in meinem Alter mit jemandem ausgingen oder immer irgendwelche Jungs in einen verknallt waren. In Wirklichkeit war das aber nur bei beliebtenMädchen wie Courtney oder Midori der Fall. Ich schaute mich um. Auf der einen Seite war eine
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