Magical
strengstens verboten. Deshalb konnte ich nur zuschauen, wie er im immer dunkler werdenden Meer strampelte und sich abmühte. Schließlich war er erschöpft und hörte auf zu paddeln. Die ganze Zeit wiederholte er die gleichen Worte: »Hilf mir, Herr, hilf mir.« Aber am Ende wurde auch das zu schwer, und er war still.
Ich dachte, er wäre tot, und schwamm näher heran. Unsere Blicke trafen sich. Er sah mich. Ich erstarrte und schwamm dann davon.
Seine schwache Stimme rief mich zurück.
»Warte! Bist du ein Engel?«, fragte er mit einer Stimme, die so dünn war, dass ich zuerst dachte, es sei nur das Tosen der Wellen oder das Geschrei der Vögel gewesen, die seinen Schiffskameraden bereits die Augen auspickten.
Ich konnte nicht antworten.
Er sagte: »Bitte, Engel, nimm meine Hand. Bete mit mir in der Stunde meines Todes.«
Er wusste, dass er sterben würde, deshalb schadete es nicht, ihm zu gehorchen. Niemand würde es erfahren. Ich schwamm näher heran und streckte die Hand aus. Ich wusste nicht, was ein Engel war, aber wenn es ihn tröstete, mich für einen zu halten, sah ich darin keinen Nachteil.
Die Berührung meiner Hand schien seine ausgelaugten Kräfte zu erneuern. Er fing an, Worte zu sprechen, viele Worte, die ich nicht verstand. Am Ende sagte er: »Lieber Gott, errette meine Seele.«
Er sah mit einem Ausdruck großen Friedens auf seinem Gesicht zum roten Himmel hinauf.
Dann ließ er meine Hand los und sank in die wogende See.
Ich war traurig wie immer, wenn ich Seeleute sterben sah. Und doch war ich weniger traurig als sonst, denn dieser junge Mann schien bereit zu gehen.
Das Wrack war unter mir und ich schwamm darum herum, um mir die interessanten menschlichen Gegenstände anzuschauen. Ich plünderte jedoch nichts davon. Das tun wir nie. »Eine Meerjungfrau nimmt nichts, ohne etwas dafür zurückzugeben«, hatte mir mein Vater gesagt, und da ich nichts zu geben hatte, nahm ich auch nichts.
In den folgenden Tagen konnte ich nicht aufhören, über das Wort nachzudenken: Engel. Ich wusste nicht, was das hieß, aber ich spürte, dass es gut war. Deshalb beschloss ich, meine Großmutter danach zu fragen.
Meine Mutter war in einem Fischernetz ums Leben gekommen, als ich noch klein war. Ihr gelang zwar die Flucht, aber als sie es geschafft hatte, war ihr Herz so schwach, dass sie starb und zu Meerschaum wurde, wie alle aus dem Meeresvolk, wenn sie sterben. Ich sah, wie es passierte. Erst war sie noch da. Dann nur noch ihr Umriss, der von regenbogenfarbenen Blasen gebildet wurde. Dann lösten sich die Blasen auf und sie war weg. Noch Wochen danach, meinte ich, ihr Auge zu sehen, das die Farbe von Perlmutt hatte, ihr Ohr, das aussah wie eine Ohrschnecke. Doch bald musste ich mir eingestehen, dass sie nicht mehr bei uns war.
Aber meine Großmutter war wie eine Mutter für mich, deshalb stellte ich ihr an diesem Abend, nach einem Abendessen aus Hummer, meine Frage.
»Großmutter, was ist ein Engel?«
Überrascht zog sie eine ihrer grauen Augenbrauen hoch und ich fürchtete schon, ich hätte etwas Falsches gesagt. »Doria, wo hast du dieses Wort gehört?«
Jetzt wusste ich, dass ich etwas Falsches gesagt hatte. Meine Schwester Marina sah mich finster an. Offensichtlich war Engel ein Wort, das man als dreizehnjährige Meerjungfrau nicht kennen sollte.
»Antworte mir«, sagte meine Großmutter. »Du hattest doch wohl keinen Umgang mit Menschen, oder? Wenn die Menschen herausfinden, dass es uns wirklich gibt, könnten sie uns fangen, uns zu Ausstellungsstücken machen oder schlimmer – sie könnten uns dafür, dass wir für Seeleute singen, als Verbrecher hinrichten.«
»Vielleicht habe ich das Wort mal erwähnt, Großmutter«, sagte meine Schwester Sirena rasch. »Ich glaube, ich habe es vielleicht aufgeschnappt, als ich an Land war.«
Kluge Sirena! Die jungen Meerjungfrauen und Wassermänner dürfen, wenn sie fünfzehn sind, klammheimlich an Land gehen. Sirena war vor Kurzem fünfzehn geworden.
»Aber«, fuhr sie fort, »ich weiß nicht, was es bedeutet. Weißt du es, Großmutter?«
Auf diese Weise besänftigt nickte meine Großmutter mit ihrem blauhaarigen Kopf und sagte: »In der Tat. EinEngel, oder eine Tochter der Lüfte, ist die Verkörperung der unsterblichen Seele eines Menschen.«
Seele? Jetzt war ich noch verwirrter als vorher.
Sie musste es an meinem Blick gesehen haben, denn sie sagte: »Wenn die Menschen sterben, werden sie nicht zu Meerschaum, so wie wir. Während ihr Körper zu
Weitere Kostenlose Bücher