Magical
Frau. Ihre goldenen Flügel zeichneten sich vor dem hellblauen Himmel ab. Das Licht funkelte auf ihr und sie glitzerte.
Ich ließ mich treiben und starrte sie lange Zeit an, bis mich eine Stimme aus meinen Träumen riss.
»Hey, sieh dir das mal an, Mama!«
»Was, Liebling?«, sagte eine andere Stimme.
»Da drüben bei den Felsen. Da ist eine Meerjungfrau!«
Ich tauchte in die Wellen ein und versteckte mich.
Ich schwamm sehr schnell und sehr weit. Es war noch früh. Ich hätte zu einer anderen Stelle schwimmen können, um etwas anderes zu sehen. Immerhin hatte ich Geburtstag. Doch ich hatte zu sehr Angst, entdeckt zu werden. Außerdem wollte ich, nachdem ich jetzt den Engel gesehen hatte, nichts weiter. Das mit Edelsteinen besetzte Bild hatte sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt.
Deshalb kehrte ich nach Hause zurück.
Als mich meine Schwestern sahen, sagten sie: »Ha! Du kommst früh. Es gab nichts zu sehen, was?«
»Nein«, sagte ich, »es gab nichts zu sehen.« Ich wollteihnen nicht die Wahrheit sagen, denn wenn sie wüssten, wie sehr ich mich danach sehnte, immer wieder ans Ufer zurückzukehren, würden sie mich beobachten. Wenn ich mangelndes Interesse vorgäbe, würden sie mich in Ruhe lassen und ich konnte tun, was ich wollte.
Und das tat ich auch. Zuerst wartete ich ein paar Tage für den Fall, dass der Junge jemandem von mir erzählt hatte.
Aber ich hörte nichts dergleichen, deshalb fing ich an, regelmäßig ans Ufer zurückzukehren. Mein wichtigstes Ziel – eigentlich das einzige – bestand darin, mehr Engel zu suchen. Ich war fasziniert von ihnen, geradezu besessen. Da ich jedoch nicht wie die Menschen laufen konnte, konnte ich nur die finden, die nah am Ufer waren. Einmal sah ich einen Engel am Bug eines Schiffes, ein geflügeltes Wesen, das aus Holz geschnitzt war. Für gewöhnlich kehrte ich jedoch zu dem einen, mit Glassteinen besetzten Bild eines Engels zurück. An manchen Tagen hörte ich, wie früh am Morgen die herrlichste Musik hinter dem Bildnis erklang. Ein Singen. Nicht wie der Gesang des Meervolks, der die Männer in den Tod lockte. Stattdessen sangen die Stimmen, die ich hörte, von Verehrung und Freude, und sie sangen vom Himmel, dem Ort in den Lüften, an den nur Menschen gelangen konnten.
Immer noch hielt ich Ausschau nach Seeleuten und Schiffswracks, noch immer hielt ich ihre Hände und tröstete sie, indem ich so tat, als wäre ich ein Engel. Aber jetzt,wo ich einen echten Engel gesehen hatte, fühlte ich mich leer, weil ich kein echter Engel war.
Unser Schloss lag in den kalten Gewässern in der Nähe Neufundlands. Es war fast Frühling, und wir wussten, dass die Temperaturen bald steigen würden. Doch jetzt genossen es meine Schwestern und ich noch, zwischen den Eisbergen zu spielen.
Doch eines Nachts, als die Luft klar und der Himmel von Sternen übersät war, sah ich etwas Seltsames im Sternenlicht – einen Eisberg, an dem etwas Rotes war.
Ich schwamm näher, um es besser sehen zu können. War es Blut? (Ich hoffte nicht.) Oder ein Stück Band? (Ich hoffte, ja.) Als ich es genauer untersuchte, stellte ich fest, dass es das war, was meine Großmutter Farbe nannte und mit dem die Menschen den Rumpf ihrer Schiffe bemalten.
Ein Schiff musste einen Eisberg gerammt und etwas von seiner hübschen roten Farbe zurückgelassen haben.
Und dann hörte ich die Schreie!
Nicht nur einen Schrei oder zehn, sondern Hunderte, nicht nur Männer-, sondern auch Frauenstimmen.
Ich konnte fast nichts sehen in der von Sternen gepunkteten Dunkelheit, aber ich tauchte unter, weil dort mein Blick schärfer war, und schwamm in die Richtung, aus der ich die Stimmen gehört hatte.
Doch als ich näher gekommen war und wieder an die Oberfläche stieg, waren die Stimmen nicht lauter. Es klang, als wären einige von ihnen verstummt.
Als ich noch näher kam, wurde mir klar, warum sieverstummt waren. Zuerst sah ich eine Frau, sie war ungesund blass und trotz des Tuches, das um ihre Schultern geschlungen war, kalt. Bei der zweiten war es dasselbe und die dritte, ein kleines Mädchen, das ein winziges Tier im Arm hielt, ebenfalls. Sie waren tot und trieben erfroren dahin. Ich schloss die Augen. Ich konnte gar nicht hinsehen.
Ich rief mir wieder ins Gedächtnis, dass dies eine glückliche Szene war. Diese Leute, diese Menschen würden für immer mit den Engeln leben, die den mit Sternen bedeckten Himmel bewohnten.
Dann hörte ich eine Stimme, die so leise war, dass sie beinah unwirklich
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