Magie der Schatten 1 - Barshim und Cashi
»Reite, schnell!«, flüsterte er leise.
Er war viel zu schwer für sie und sie konnte ihn nicht halten. »Was ist…?«
Sie ging in die Knie und erkannte den Pfeil in seinem Rücken. Abrupt hob sie den Kopf und sah Tamin an einem der Fenster der Bibliothek. Trotz der Entfernung konnte sie sein eiskaltes Lächeln sehen. Ihr Traum, der verdammte Traum! Er hatte sie die ganze Zeit gewarnt.
»Barshim, nein, nein, nein!« Sie schluchzte und krallte sich fest an ihn. »Nein, geh nicht, du darfst nicht…«
Liebevoll umfasste er ihre Hand. »Bring es zu Ende, lass ihn nicht siegen. Das Schicksal hat es so bestimmt und niemand kann das Schicksal verändern, nicht einmal ich.« Seine Stimme brach und seine Hand rutschte aus der ihren.
Für Sekunden schien die Zeit den Atem anzuhalten, um ihr die Möglichkeit zu geben zu begreifen, was geschehen war und was sich gerade hier vor ihren Augen abspielte. Auch wenn sie nichts davon glauben wollte.
Das alles konnte nicht sein, doch die Gewissheit lag vor ihr und sie trat langsam an den Rand ihres Bewusstseins. Cashimaé nahm aufgeregte Stimmen wahr, die auf dem Platz erklangen. Zärtlich strich sie über sein Gesicht und küsste ihn auf die Stirn. »Ich werde stark sein, für uns beide. Zum Trauern bleibt noch Zeit.«
Es fiel ihr unendlich schwer, den Magier loszulassen. Sie stand auf. Barshim hatte ihr etwas in die Hand gedrückt. Ihr Blick suchte noch einmal den von Tamin. Dann wirbelte sie herum und rannte über den Platz. Am Rande stand noch immer das Pferd. Ohne anzuhalten, ergriff sie im Laufen die Zügel und hievte sich in den Sattel. Ein letztes Mal drehte Cashimaé den Kopf, das braune Haar peitschte über ihren Rücken. In ihren Augen stand Kälte und Entschlossenheit.
Dann riss sie das Tier brutal herum und preschte hinaus aus der Stadt und auf die Berge zu.
Kapitel 40
Vor dem Pfad, der durch die Berge führte, wartete Marvell auf Cashimaé.
»Ich werde vorreiten. Tamins Leute warten dort draußen auf dich, ich werde sie auf eine falsche Fährte führen.« Sie starrte ihn an, nicht fähig, auch nur ein Wort heraus zu bringen. »Geh deinen Weg, kleine Cashim! Geh, das ist Barshims Wunsch.« Er ließ seinem Wallach die Zügel und verschwand zwischen den Felsen.
Cashimaé blickte ihm nach und folgte kurz darauf. Keiner der Wächter griff sie an und als sie auf dem engen Weg galoppierte, war niemand zu sehen. Sie wusste nicht, wo Marvell hingeritten war – es war auch nicht relevant.
Sie machte sich auf den direkten Weg in eine ungewisse Zukunft. In ihrer Hand lag das Kreuz, das der Abt Barshim bei ihrer Abreise geschenkt hatte. Daran klebte Blut, sein Blut.
Sie ballte die Hand zur Faust. Der Wind schnitt ihr ins Gesicht und trug die Tränen fort, die sich nun ihren Weg suchten. Doch als der Druck und das Leid zu groß wurden, schrie sie ihren Schmerz so laut hinaus, dass er vom Echo der umliegenden Berge aufgenommen und von jedem Tal zurück geworfen wurde. Ein letztes Mal wollte sie diese Schwäche des Verlustes zeigen. Ein letztes Mal, dann würde nicht einmal mehr der Regen ihre Tränen noch erkennen.
*
Mitten in der Nacht verfiel ihr Pferd in langsameres Tempo. Cashimaé saß zusammen gesunken auf dem Rücken. Die Stunden zogen sich endlos.
Auch den folgenden Tag erlebte sie wie in Trance. Sie war wie zu einer Puppe geworden, die nur noch funktionierte, bestrebt auf ein einziges Ziel. Die Gefühle in ihr in eine Kiste gesperrt, deren Schlüssel sie irgendwo auf dem einsamen Weg verloren hatte und mit ihm die Gedanken. Ihr Herz bestand nur noch aus dem Eisen, aus dem Schwerter geschmiedet wurden. Kalt und hart.
In der Abenddämmerung blieb das Pferd stehen. Sie hob müde den Kopf. Das braune Haar fiel in Strähnen über die Schultern. Vor ihr lag der Rand der roten Wüste. Die Weite öffnete sich in die Unendlichkeit. Im Schein der untergehenden Sonne leuchtete der Sand wie flüssiges Gold, durchsetzt vom Rot der Kristalle, die sich mit ihm vermischt hatten. Ein Meer aus Blut.
Cashimaé stieg ab, ließ das Pferd hinter sich und betrat die rote Wüste. Stetig setzte sie einen Fuß vor den anderen, dachte nicht zurück an das, was hinter ihr lag. Nur der Blick nach vorne zählte.
Irgendwann in der Nacht war Cashimaé am Ende ihrer Kräfte und brach zusammen. Die Lippen rissig und die Füße wund, lag sie auf der Seite. Ihre Hand griff tief in den Sand und ihr Blick hob sich zu dem sternenklaren Himmel, der hier so nah erschien wie nirgendwo
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