Magie der Schatten: Roman (German Edition)
dass ihre Gründe andere waren.
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Die Wochen waren dahingeschlichen. Elarides hatte unter dem ewig wolkenlosen Himmel auf dem ewig pechschwarzen Stein gesessen und gewartet und zugesehen. Die ganze Stadt schöpfte in diesen Tagen ihr Leben aus dem näher rückenden Abend des letzten Drachen . Männer turnten auf haushohen Leitern und auf den Dächern der Stadt herum, und immer öfter brachten Händler Speisen, Getränke und erlesene Stoffe über die schwankenden Hängebrücken nach Zweibrück.
Elarides versuchte, die Händler nach den Ereignissen in Arland zu befragen, aber die meisten kamen aus den provinziellen Sommerfeldern hierher und waren dem Geschehen im Herzen des Reichs auch nicht näher als er selbst. Und bis hierhin schien noch kein Suchtrupp vorgedrungen zu sein – was seltsam war. Denn der Feuermagier und seine Soldaten hatten ihnen offensichtlich aufgelauert, und Boten hätten die Nachricht von ihrer Ankunft weitertragen müssen.
Die Söldner um Vicold taten in der Zwischenzeit das, was der Messermann schon angekündigt hatte: Sie ließen es sich gut gehen. Wenn es eine Konstante in Zweibrück gab, dann waren es die Männer, die Tag für Tag an den Tischen vor dem Letzten Licht saßen und Mahlzeit um Mahlzeit orderten, tranken und sangen und lachten.
Kyklon – Raigar – half den Menschen Zweibrücks als Einziger. Mit seiner Statur, die mehr einem Bären als einem Mann glich, brauchte er sich nur auf die Zehenspitzen zu stellen, um einen Lampion an den Leinen zwischen den Häusern zu befestigen. Andere Männer hätten dazu erst umständlich auf eine Leiter steigen müssen.
Oft traf sich der alte Söldner mit der Priesterin aus der zerstörten Kirche. Mihiko hieß sie, oder so ähnlich. Manchmal traf er sich auch mit Elarides. Aber sie wechselten nicht viele Worte, und Elarides wusste, an wem es lag. Er musste nur in den Spiegel schauen, um den Schuldigen zu finden. Er war jetzt ein Gefangener in einem fremden Land. Sein Vater wusste davon wahrscheinlich noch nicht einmal. Nur Weider und Lavar hatten inzwischen wohl davon erfahren.
Aber wie würden sie ihn hier herausholen können? Die Grenze durften sie nicht überschreiten, und nur wegen ihm in Verhandlungen zu treten mit dem geheimnisvollen Nigromanten, der irgendwo da draußen herrschte, das war der allerlächerlichste Gedanke.
Um solch finstere Eingebungen zu vertreiben, ließ Elarides sich von der steigenden Stimmung in der Stadt mittragen, so gut es eben ging.
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Der Abend des elften November war angebrochen. Um ihn herum leuchtete und glühte die hereinbrechende Nacht. Zwischen den Häusern hingen papierene, kunstvoll gefaltete Laternen, die Sterne, den Mond und sogar stilisierte Drachen darstellten. Sie beleuchteten die langen Tische und die riesigen Suppentöpfe, aus denen warmer Dampf in die Nacht hinaufstieg. Und die Nacht war kalt. Niemand saß ohne dicken Wintermantel und mehrmals um den Hals geschlungenen Schal auf dem Platz. Der Atem der Leute verwandelte sich in weiße, rasch davonziehende Gespenster. Vielleicht wäre schon Schnee gefallen, wenn es in diesem Land Wolken gegeben hätte. Aber so blieb der Fels schwarz wie eh und je, und nur die Wärme, die von den Töpfen und den Suppen auf den Tellern abgestrahlt wurde, war ein Trost.
Eine große Hand stellte einen vollen Teller auf dem Platz neben ihm ab. »Kann ich mich setzen?«
»Hm.« Elarides nickte.
Er erkannte irgendwo den Rücken des immer dunkel gekleideten Messermanns, und auch die beiden Jungen – Adler und Rattenfinger – saßen am Ende des Tischs.
Raigar nahm neben ihm Platz. Die ersten Tage hatten die Menschen aus Zweibrück sich respektvoll von dem Koloss ferngehalten, aber jetzt saßen und aßen sie mit ihm am selben Tisch.
»Hast du schon den Drachen gesehen?«, fragte Raigar. Die Hände trug er jetzt wieder unbandagiert, die Zerrung in der einen und die Verbrennung an der anderen Hand waren beinahe völlig ausgeheilt.
»Welchen Drachen genau meinst du?«, fragte Elarides.
Es gab Laternen in Drachenform, und dann gab es auch noch die hauchdünnen, mit Drachenmustern bestickten Seidentücher, die die Leute vor ihre Fenster spannten. Die Herdfeuer strahlten von innen hindurch und zeichneten die Fäden des Drachenmusters nach, so dass die Illusion eines echten Drachen entstand, der hinter dem Tuch lauerte. Der starke Wind tat sein Übriges und erweckte die Tücher und damit auch die Schatten zum Leben. Es war eine ganze Stadt voller Drachen.
»Ich
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