Magie der Schatten: Roman (German Edition)
Vicold legte die Hände aneinander.
Raigar sah auf. »Ich gehe nicht mit dir«, sagte er und wandte sich wieder der Klinge zu.
Vicold lachte leise. »Nein, das erwarte ich auch nicht. Du denkst zu schlecht von mir. Ich bin nicht hier, weil ich will, dass du etwas für mich tust. Du sollst nur zuhören.«
»Hast du mir etwas zu sagen außer Lügen und Ausflüchten?«
»Ich habe niemals gelogen, Raigar.«
Raigar setzte das Schwert ab. Ja, es stimmte. Gemordet und eigene Leute geopfert, das hatte Vicold, aber gelogen hatte er nie. »Was willst du?« Er nahm den Schleifstein und warf ihn in die Schlucht.
»Du hältst mich für ein Ungeheuer. Für eine Bestie.«
»Ja«, sagte Raigar.
»Du warst mit uns in den Wüsten. Aber du warst nur ein Söldner, nicht wahr?«
»Wir alle waren Söldner.« Er blickte über die Schlucht. Die Hängebrücken schwangen im leichten Wind hin und her, und auf der anderen Seite reihten sich die Bäume neben der Straße dicht aneinander.
»Es gab einige Dutzend, die keine waren.« Vicold schob seinen Ärmel bis zum Ellenbogen zurück. Das Sternenlicht enthüllte ein dunkles Symbol auf dem Unterarm. »Jemand musste die Söldner führen. Jemand, auf den der Kaiser sich verlassen konnte.«
Raigar beugte sich hinüber. Das Mal trug die Form eines Löwenkopfs, und Farbe und Beschaffenheit verrieten, dass es eingebrannt worden war. »Wir haben den Löwen nur auf unseren Waffen tragen müssen, nicht auf unserem Körper«, sagte Raigar.
»Der Kaiser hat bei euch mit Ungehorsam und mit Deserteuren gerechnet. Es wäre traurig für ihn gewesen, wenn ihr sein Zeichen für immer getragen hättet.«
»Weshalb hätten wir eher desertieren sollen als ihr?«, fragte Raigar. »Oh, ich weiß es. Sobald wir begriffen hätten, dass wir nur Schlachtvieh sind.«
Vicold lachte. »Die Löwen wussten von Anfang an, was sie waren, trotzdem blieben sie.«
»Weil er euch Reichtum versprochen hat, nicht wahr? Das habe ich unter den Männern damals aufgeschnappt. Ländereien, Berge von Goldmünzen, schöne Frauen von den Leopardeninseln, wo die Sonne niemals untergeht.«
»Alles, bis auf das Letzte.« Vicold krempelte den Ärmel wieder herunter. »Das war der Preis, den wir zahlen mussten.«
»Hm? Was meinst du?«
»Es ist nur ein kleiner Schnitt.« Vicold befeuchtete sich die Lippen. »Viele denken, dazu müsste man … alles abschneiden, was den Mann zum Mann macht. Aber man muss nur die Verbindung durchtrennen, das hat der Apothekarius damals gesagt.«
Raigar schüttelte den Kopf. In den Wüsten wurden solche Rituale praktiziert. Die Harems der reichen Herrscher wurden von den stärksten Männern bewacht, die jedoch keine Männer mehr waren. Dafür sorgte ihr Aufnahmeritual.
»Wenn ich im Bett neben einer Frau liege, kann ich mehr tun, als mich nur mit ihr zu unterhalten«, sagte Vicold. »Aber einen Sohn wird mir keine Frau der Welt mehr schenken.«
Jetzt nickte Raigar. »Das ist seine Rückversicherung gewesen. Ihr verpflichtet euch ihm, und wenn ihr euch von ihm abwendet, verliert ihr alles.«
»Ich habe mich nicht abgewandt.« Vicold wurde nun laut, und seine Stimme brach beinahe. »Ich habe für ihn gekämpft, und ich wäre für ihn gestorben. Aber ich habe überlebt, und jetzt nimmt er mir …«
»… alles«, ergänzte Raigar leise.
Vicolds Hand zitterte. »Ich habe keine Schwester und keinen Bruder mehr, und meine Eltern sind tot. Weider hat beschlossen, dass meine Blutlinie mit mir endet, Raigar. Und er schickt alle Bewaffneten, die er findet, nach mir, um alles, was übrig geblieben ist, auszulöschen.«
Raigar blickte in die Schlucht hinab. Die schäumenden Fluten klangen von unten zu ihm hoch.
»Ich habe dich zu viele Brüder und Eltern töten sehen.« Langsam erhob er sich. »Ich werde den gleichen Weg nehmen wie du, ins Schattenland. Aber nicht an deiner Seite.«
Die Brücken schaukelten und quietschten leise. Vicold rappelte sich auf und machte einige Schritte hinter ihm her, dann blieb er stehen. »Dann möge es so sein, Raigar.«
Raigar ging davon, auf die Lichter der zerstörten Stadt zu.
Kapitel 19:
ABSCHIED
Es kam, wie er es vorhergesagt hatte. Lenia sprach wieder mit ihm, schon am nächsten Tag. Aber irgendetwas war anders. Eine unscheinbare Winzigkeit stand zwischen ihnen, etwas im Ausdruck ihrer Augen oder im Tonfall ihrer Stimme. Er konnte es nicht genau fassen. Und so bereitete er sich auf die Reise vor, an deren Ende er mit Fug und Recht würde behaupten können,
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