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Magie der Schatten: Roman (German Edition)

Magie der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Magie der Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lisowsky
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aus dem Buch. Es wirkte grotesk, beinahe unfreiwillig komisch.
    Aber er hatte auf anderes zu achten.
    ***
    Die meisten ihrer täglichen Wanderungen verbrachte er in einer Art Halbschlaf. An der Umgebung änderte sich ohnehin nur die Dicke der Schneedecke, mit der Büsche und Bäume überzogen waren. Abends, wenn er das Buch aufschlug, dann lebte er. Manchmal ließ er sich auch einfach nur von der Erzählung mitreißen. Er kannte schon jedes Detail auswendig und hätte ein gutes Stück im Wortlaut wiedergeben können, aber jedes Mal zog das Buch ihn von neuem in sich hinein.
    Längst nahm er nicht mehr wahr, wie viele Wochen vergingen und wie viele Dörfer sie besuchten, um ihre Vorräte aufzustocken. Auch seine Gefährten schwiegen. Keine Klage über die lange Reise, keine Mutmaßungen über die Dauer. Aber eines Morgens sprach Sax von der Stadt ohne Namen . Sie würden den legendären Ort noch heute erreichen, sagte er, und gegen Nachmittag zeigte sich, dass er nicht gelogen hatte. Schneebedeckte Ruinen zeichneten sich durch einen Schleier aus tanzenden Schneeflocken ab.
    Zwar war das Brot knapp und eine richtige Stadt hätte ihnen nicht geschadet, aber diese Gelegenheit war einmalig. Er schlug vor, in den Ruinen ein windgeschütztes Nachtlager zu errichten, und Lenia machte sich wortlos an die Arbeit.
    Nairod begab sich auf Entdeckungsreise, kalten Wind im Gesicht und eine weiße Schicht auf Mantel und Handschuhen. Sax kauerte auf seiner Schulter, noch immer mit nichts anderem bekleidet als seinem langen Haar.
    Auf den seit Winteranfang unbenutzten Wegen lag der Schnee nun fast kniehoch – und hier in der Gegend waren die Wege noch viel länger unbenutzt gewesen. In der weißen Decke fanden sich hier und dort Pfoten- und Krallenspuren, aber sie wurden schnell wieder zugeweht. Nairod schob mit den Stiefeln mühsam den Untergrund frei. Unter einer Eisschicht kam geborstener Stein zum Vorschein, zwischen dem das Grün von Gräsern hervorwucherte. Das gleiche Bild boten die Überreste der Gebäude. Lose Wände erhoben sich aus der Schneedecke, und grüner Bewuchs hatte die Fugen des Mauerwerks ausgemalt.
    »Die Stadt soll einmal größer gewesen sein, als die Hauptstadt jetzt ist«, sagte er. In endloser Reihe zogen sich die Ruinen in alle Himmelsrichtungen. Mal als zackige, an Felsen erinnernde Überreste, dann wieder als unversehrte, von Menschen verlassene Bauten.
    »Was für ein Gebiet die Stadt einst umfasste, siehst du jetzt noch.« Sax’ Haarkleider flatterten im Wind und kitzelten Nairod am Hals. »Die Größe ist nicht verwunderlich. Es ist die Hauptstadt des Glaubens gewesen, und früher einmal war der Glaube größer als jeder Herrscher.«
    Nairod stapfte zu einem Bauwerk, das einstmals zwanzig Meter hoch gewesen sein mochte. Jetzt standen nur noch zwei Wände, die eine davon abgebrochen und schräg an die andere gelehnt. »Was weißt du über diese Stadt? Sie hat auf gewisse Weise auch mit dem Drachen zu tun, den wir finden wollen.«
    »Ich weiß nicht mehr als irgendein kluger, geschichtskundiger Mann. Nirgends im Reich gab es mehr Tempel als hier, und Gläubige sind von überall hierhergepilgert, um den Lehren der höchsten Priester zu lauschen. Und dann kam der Tag, an dem diese Priester so tief gefallen sind wie niemand zuvor.«
    Nairod zog die Handschuhe aus und strich im Vorbeigehen mit den nackten Fingern über die eiskalte Oberfläche einer Hauswand. »Der Abend des letzten Drachen.«
    »Der Drache wurde weit im Osten getötet, das wurde später verkündet. Deshalb könnte die Geschichte in dem Buch tatsächlich stimmen. Tja, der Ewige, der stets zu den Priestern gesprochen hatte, wurde stumm. Er starb. Unter den Priestern brach der Wahnsinn aus, und sie zerstörten so viel von dem, was an den Ewigen erinnerte, wie sie nur konnten. Sich selbst eingeschlossen. Seitdem darf niemand mehr den Namen der Stadt aussprechen.«
    Unter den Ruinen machte Nairod einen Turm mit einer teilweise zerstörten Seitenwand aus, durch die man ins Innere blicken konnte. Der Rest des Bauwerks stand noch. Er ging darauf zu. »Wieso gibt es dann noch immer Menschen, die sich Priester nennen? Sie hätten ebenfalls wahnsinnig werden müssen oder eben nicht mehr als Priester auserwählt werden können.«
    »Das ist die Frage. Ich weiß nichts darüber, wie man ein Priester wird. Einfaches Volk wird es also auch nicht wissen. Was tust du als fleißiger Bauer, wenn eines Tages ein Mann, der sich Priester nennt, in deinem Dorf

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