Magie der Schatten: Roman (German Edition)
trugen den Schnee auf Kronen und Ästen, und in den Lücken zwischen den Bäumen war er nicht ganz so hoch. Die Spuren setzten sich im Wald fort.
»Sie muss es ziemlich eilig gehabt haben«, sagte Nairod.
»Angst macht die Menschen unvorsichtig.«
Nairod hielt nach weiteren Spuren Ausschau. Meistens lagen sie in der Mitte des Wegs. Lenia schien sich auch keine Gedanken um einen Richtungswechsel gemacht zu haben.
Ohne anzuhalten, rannte Nairod durch den Wald. Bald nahm er die Spuren nur noch beiläufig auf. Sie bogen niemals ab.
Aber plötzlich verschwanden sie am Bett eines kleinen Bächleins mit gefrorener Oberfläche. Nairod hielt an. »In irgendeine Richtung muss sie ja gelaufen sein.«
Sie suchten, fanden aber nichts.
Im Schnee führten die Spuren nur bis zum Bächlein. Unter einer Eisdecke plätscherte das Wasser entlang. »Was wäre, wenn …« Nairod drückte mit einer Hand auf das Eis. Es knirschte sofort. »Nein, hier kann sie nicht entlang sein. Sie wäre noch vor dem zweiten Schritt eingebrochen.«
»Ich bin hier.« Eine dünne Stimme erklang hinter ihm. Er fuhr herum. Lenia. Sie stand vor ihm, schweißverklebtes Haar in der Stirn. In einer Hand hielt sie das in Stoff geschlagene Buch.
Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen. Er riss es ihr aus der Hand und drückte es sich an den Körper. »Diebin. Wie dumm von dir zu glauben, du könntest davonkommen. Mit meinem Buch .«
»Was meinst du?« Sie ließ die leeren Hände sinken.
Er hatte ihren sorgenvollen Blick so satt. »Verhöhnst du mich auch noch?«, rief er. »Es reicht. Ich habe dich so lange mitgeschleppt – und dann tust du mir das an. Verschwinde einfach. Geh zurück nach Wolkenfels, zu deinen Lehrern und Büchern und –«
»Nairod! Was ist los? Sax hat gesagt –«
Er machte einen Schritt auf sie zu und musterte sie. Er suchte in dem Gesicht nach etwas, das ihm vertraut vorkam, das ihm einen Grund gegeben hatte, dieses Mädchen so lange mit sich zu nehmen. Aber da war nichts mehr. »Sax hat mich gut beraten. Die ganze Zeit über. Und auch diesmal hat er recht gehabt.«
Lenia wich vor ihm zurück. Die Sorge in ihrer Miene wurde überlagert von Zorn. »Du hörst nur noch auf ihn. Oder auf das, was dir dieses Buch einflüstert! Wieso hörst du nicht einmal auf dich selbst? Dann würdest du schnell begreifen, dass du einem irren Hirngespinst nachrennst!«
»Deinen Rat brauche ich nicht, Hexe«, sagte er kalt. »Verschwinde.«
Ihre Lippen bebten. »Ja. Ich verschwinde. Nur zu gerne.«
»Komm diesmal nicht zurück.«
Sie drehte sich um und ging ohne ein Wort. Zwischen den Stämmen verschwand sie Richtung Süden. Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Ein leichter Wind folgte ihr. Außerhalb des Walds war das vielleicht eine Sturmbö, die hier von den dichtstehenden Stämmen abgebremst wurde.
Nairod folgte mit dem Blick der schwankenden Bewegung ihres Rucksacks, bis sie sich irgendwann im Schatten der Stämme auflöste. Nur in ihm blieb etwas zurück, das wie die angeschlagene Saite einer Leier zitterte.
»Also bist du sie endlich losgeworden.« Sax balancierte mit nackten Füßen auf dem Eis des zugefrorenen Bachs.
Nairod wickelte das Buch aus und strich über den Einband. Das Zittern in ihm verstummte.
Er wickelte Eikyuuno wieder sorgsam ein und verstaute es in seinem Rucksack. Dann streckte er Sax eine Hand hin. »Steig auf. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
Kapitel 20:
DIE FELSROSE
Das Land der sterbenden Wolken . Das war Mihikos Name für das Schattenland. Sie lebte an der Grenze der zwei Welten, und Tag für Tag musste sie die Wolken sehen, die von Osten aus Arland vom Wind herangetrieben wurden und an den Grenzen des Schattenlands zerfaserten wie schlecht gewebte Kleider. Sie sterben , hatte die Priesterin gesagt. Weil alles sterben muss, das das Schattenland betritt.
Aber er musste auch dann sterben, wenn er Arland wieder betrat. Mit größerer Wahrscheinlichkeit als hier. Die Priesterin konnte ihm keine Angst einjagen mit den Geschichten von Schatten, die lebendig wurden, um den Menschen ihr Leben zu nehmen.
Er suchte seine Panzerhandschuhe in den Trümmern des Gasthauses und fand nur zerdrücktes Eisen. Aber er konnte sie ohnehin nicht mehr gebrauchen, denn jetzt benötigte er Waffen mit tödlicher Wirkung. Er nahm Ronalds Axt an sich, zusammen mit einem Soldatenspeer und dem Schwert von Elarides’ verstorbener Leibgarde. Der Junge starrte ihn mit einem Gesichtsausdruck an, als schäme er sich für
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