Magie der Sehnsucht - Roman
waren, hielt Selenas Jeep vor dem Haus. Von einem großen, dunkelhaarigen
Mann mit einem Gipsarm begleitet, rannte sie zur Tür. »Bist du okay?«, fragte sie und umarmte Grace.
»Ja.« Grace spähte über die Schulter ihrer Freundin und begrüßte den Mann. »Hallo, Bill.«
»Hi, Grace, wir sind gekommen, um dir zu helfen.«
Sie machte ihn mit Julian bekannt, dann gingen sie in die Diele. Vor der Wohnzimmertür griff Julian nach Selenas Hand und zog sie beiseite. »Würden Sie Grace für eine Weile hier unten festhalten?«
»Warum?«
»Weil ich was erledigen muss.«
»Also gut …«, stimmte sie zögernd zu.
Er wartete, bis die drei im Wohnzimmer saßen. Dann eilte er in die Küche und holte ein paar Müllsäcke, stieg die Treppe hinauf und betrat die verwüstete Kammer.
So schnell wie möglich räumte er auf, damit Grace das deprimierende Chaos nicht mehr sehen musste. Bei jeder zerrissenen Buchseite, die er berührte, wuchs sein Zorn. Voller Begeisterung hatte Grace ihm ihre kostbare Bibliothek gezeigt. In seiner Fantasie sah er ihr strahlendes Gesicht, hörte ihre ausdrucksvolle Stimme, mit der sie ihm seine geliebte »Ilias« vorgelesen hatte …
»Heiliger Himmel!«, rief Bill von der Tür her. » Das hat dieser Kerl angerichtet?«
»Ja.«
»Oh Mann, was für ein gemeingefährlicher Irrer!«
Schweigend stopfte Julian das zerfetzte Papier in die Müllbeutel, von wilder Rachsucht erfüllt. Nicht einmal Priapos hatte einen so abgrundtiefen Hass in seiner Brust geweckt wie Rodney Carmichael. Denn der grausame Fruchtbarkeitsgott verletzte nur ihn – nicht Grace …
Die Schicksalsgöttinnen mochten den Mann vielleicht verschonen – Julian würde keine Gnade kennen.
»Sind Sie schon lange mit Grace zusammen, Julian?«
»Nein.«
»Das dachte ich mir. Selena hat Sie gar nicht erwähnt – obwohl sie dauernd ihr Bestes tat, um ihre Freundin mit irgendwem zu verkuppeln. Aber seit der Geburtstagsparty hat sie sich keine Sorgen mehr um Grace gemacht. Also müssen Sie damals schon aufgekreuzt sein.«
»Ja.«
»Ja, nein, ja … Sie reden nicht viel, was?«
»Nein.«
»Okay, ich verstehe den Wink mit dem Zaunpfahl. Bis später.«
Julian strich über den Einband von »Peter Pan«, Graces Lieblingsbuch. Bedrückt musterte er das Titelbild, dann steckte er es in einen Müllbeutel.
Wie lange Grace reglos auf der Couch saß, wusste sie nicht. Nur eins war ihr bewusst – welch ein schweres Leid Rodney Carmichael ihr zugefügt hatte.
Selena brachte ihr eine heiße Schokolade. Als Grace daran nippen wollte, zitterte ihre Hand so heftig, dass sie die Tasse auf den Tisch stellen musste. »Nun sollte ich da oben sauber machen.«
»Darum hat sich Julian schon gekümmert.« Bill rekelte sich im Lehnstuhl und zappte durch die TV-Kanäle.
»Was?«, fragte Grace erstaunt. »Wann?«
»Vorhin.«
Grace lief die Treppe hinauf und fand Julian im Zimmer ihrer Eltern. Verwundert blieb sie auf der Schwelle stehen und beobachtete, wie er den Raum in Ordnung brachte. Dieses Werk hatte er fast vollendet. Nun faltete er gerade
eine Pyjamahose ihres Vaters zusammen – auf eine Weise, die den Unmut ihrer Mutter erregt hätte – und legte sie in ein Schubfach.
Tief gerührt schaute sie dem legendären Feldherrn bei der Hausarbeit zu, die er ihr zuliebe übernommen hatte, und ihr Herz flog ihm entgegen.
Jetzt hob er den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Die liebevolle Sorge in seiner Miene tröstete ihre verletzte Seele.
»Danke«, sagte sie.
Gleichmütig zuckte er die Achseln. »Ich hatte nichts anderes zu tun.« In seiner Stimme schwang ein Unterton mit, der sein nonchalantes Verhalten Lügen strafte.
»Ich bin dir trotzdem dankbar.« Langsam ging sie durch das Zimmer und berührte das Fußende des Mahagonibetts. »Darin haben schon meine Großeltern geschlafen. Mein Großvater war ein Tischler, und er hat es für meine Großmutter gezimmert. Das weiß ich von meiner Mutter.«
Die Stirn nachdenklich gefurcht, betrachtete er ihre Hand, die auf dem Holz lag. »Es ist sehr schwierig, nicht wahr?«
»Was?«
»Die Menschen gehen zu lassen, die man liebt.«
Er sprach aus eigener Erfahrung – aus dem Herzen eines Vaters heraus, der seine Kinder verloren hatte. Obwohl er nachts nicht mehr um sich schlug, hörte sie ihn die Namen seines Sohnes und seiner Tochter flüstern. Wie oft mochte er von ihnen träumen? Und wie oft dachte er in qualvoller Trauer an die beiden?
»Ja«, bestätigte sie leise. »Aber das weißt du
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