Magie und Schicksal - 2
»Außerdem gibt mir deine Anwesenheit ein gutes Gefühl.«
Und vielleicht sind dies unsere letzten gemeinsamen Tage , denke ich. Ich bin dankbar für jede Sekunde.
Sie nickt und schaut sich um. »Vielleicht ist es nicht möglich, das Tor ohne Alice zu schließen, aber als Schwester und ehemaliger Wächter möchte ich dir gerne zur Seite
stehen, möchte mit dir im Kreis des Feuers stehen. Ich möchte meine Macht – oder das, was mir davon geblieben ist – dafür einsetzen, dir zu helfen, das Tor zu schließen. Deshalb bin ich hier.«
Ich antworte nicht gleich. Es ist unmöglich, das Gefühl zu vergessen, dass die Träume von der Beschwörung in Avebury in meinem Herzen hinterlassen haben. Das Gefühl, in Stücke gerissen zu werden, wenn Samael die Welt heimsucht. Dunkelheit legt sich über meine Seele, wenn ich daran denke. Das möchte ich Tante Virginia nicht zumuten.
»Es ist gefährlich«, sage ich zu ihr. »Samaels Macht ist … Nun, ich fühle sie jede Nacht in den Albträumen, die ich habe, und ich glaube nicht, dass du sie aushalten könntest. «
Ein Lächeln schleicht sich in ihre Augen. Einen kurzen Moment lang sehe ich in ihnen den Schatten meiner Mutter. »Lia, glaubst du, ich kenne das Risiko nicht? Es ist richtig, dass deine Mutter und ich nicht annähernd den Kampf ausfechten mussten, der dir aufgebürdet wird. Wir waren nur einfach Wächter und Tor, wie Hunderte von Schwestern vor uns. Du dagegen bist der Engel des Chaos. Und das ist ein ungleich schwierigeres Los. Es ist so schwierig, dass ich es mir nicht einmal annähernd vorstellen kann.« Ihre Augen, grün wie meine eigenen, werden ernst. »Aber es gibt kein größeres Ziel als dieses, und obwohl ich meine Rolle als Wächter an Alice weitergegeben habe, verfüge ich noch immer über eine ansehnliche Kraft. Ich möchte
nicht mit dem Gedanken leben müssen, dass ich dabeistand und zusah, wie du diesen Kampf alleine ausfechten musstest.« Noch einmal lächelt sie. »Wir sind mehr als Tante und Nichte, Kind. Wir sind Schwestern der Prophezeiung. Es ist meine Pflicht, an deiner Seite zu sein.«
In ihren Augen steht ein Leuchten, das ich dort noch nie gesehen habe, das von einer verborgenen Stärke spricht, von Überzeugung, und ich weiß, dass ich sie nicht abweisen kann. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass dieses Leuchten erlischt.
»Also gut«, sage ich, »es ist mir eine Ehre, Tante Virginia, deine Hilfe und Unterstützung anzunehmen.«
Sie neigt leicht den Kopf, als ob sie ihre Herrin begrüßen würde – die zukünftige Herrin von Altus. »Danke.«
Ich neige ebenfalls den Kopf und bete im Stillen: Mögen die Götter, die Grigori und die Schwestern uns beistehen.
In dieser Nacht fällt es mir besonders schwer, Dimitri gehen zu lassen. Ich ziehe ihn an mich, als er mein Zelt verlassen will, und drücke mich fest an ihn, schiebe meinen Kopf unter sein Kinn und versuche, alles aus meinem Bewusstsein zu verbannen, außer seinem Atem in meinem Haar und seinen Herzschlag an meinem Ohr.
Obwohl wir noch keine Spur von der Leibwache gesehen haben, weiß ich, dass die Reiter nicht mehr weit weg sind. Ich weiß nicht, ob sie in der wirklichen Welt näher kommen oder ob sie tatsächlich mein Bewusstsein durchdrungen
haben. Jedenfalls lauern sie in den Schatten meiner geheimsten Gedanken.
Selbst in wachem Zustand liegen sie mir wie ein Albdruck auf dem Herzen. Ihre Verlockungen sind hinterlistig, denn sie erscheinen mir nicht als Bedrohung. Stattdessen habe ich zunehmend das Gefühl, dass ich mich die ganze Zeit geirrt habe. Dass ich das Schicksal versucht und alles aus dem Gleichgewicht gebracht habe, weil ich mich weigere, meine Rolle als Tor zu akzeptieren.
»Was ist los?«, fragt Dimitri nach einer Weile.
»Nichts«, lüge ich.
Seine Brust hebt sich, als er tief Atem holt. »Ich glaube dir nicht, aber ich bin in der Nähe, wenn du deine Meinung änderst und mit mir darüber reden möchtest.«
Ich halte ihn fest, als er sich von mir lösen will. »Geh nicht.«
»Ich gehe nirgends hin, Lia. Ich bin hier.« Er beugt sich nieder und küsst mich. »Aber du musst jede Sekunde Schlaf ausnutzen, die du bekommen kannst. Morgen erreichen wir Avebury. Du brauchst all deine Kraft.«
Ich bin erleichtert, dass er sich in die Decke kuschelt und augenscheinlich nicht mehr vorhat, das Zelt zu verlassen. Uns beiden ist mittlerweile egal, was die anderen denken könnten. Er zieht mich mit einer Sanftheit an sich, die ich nicht von ihm
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