Magie und Schicksal - 2
Alice geht mir seit unserem Aufbruch nach Avebury nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder wälze ich unser letztes Gespräch in meinen Gedanken hin und her, sehe jenen Funken des Zweifels in ihren Augen und frage mich, ob ich tatsächlich alles mir Mögliche unternommen habe, um sie für uns zu gewinnen. Vielleicht ist Alice stärker in Versuchung, sich uns anzuschließen, als mir gewahr ist.
Ich bin mit den Gepflogenheiten der Anderswelten vertraut. Entweder man findet sich aus freien Stücken und aus freiem Willen hier ein, oder man wird von einem fremden Willen gerufen. Aber wie ich so auf den Feldern stehe, inmitten dieses schwarzgrauen Lichts, hier und da mit einem giftig schimmernden Lila gerändert, frage ich mich, was genau mich in diese Einöde der Anderswelten geführt hat. Es stimmt: Ich habe an Alice gedacht. Sie allein hätte mich hierher führen können. Auf ihren Ruf hin hätte ich kommen müssen. Aber dann sollte sie wenigstens hier sein, um mich zu empfangen.
Ich drehe mich langsam um die eigene Achse und überblicke die schier unendliche Weite der Steppe, bis zu den rabenschwarzen Baumsilhouetten in der Ferne. Dies ist
eine stille Welt. Kein Vogel singt. Kein kleines Tier huscht raschelnd durch das Gras. Selbst die Bäume, die sich in einem Wind wiegen, den ich nicht fühlen kann, geben kein Geräusch von sich.
Ich warte eine lange Zeit. Mein Magen verkrampft sich. Egal, warum ich hierher befohlen wurde, ich kann nicht länger verweilen. Alice ist nirgends zu sehen. Es ist schwer, der Aufmerksamkeit der Seelen zu entgehen, wenn ich mit den Schwingen reise, und ich habe nicht die Absicht, mich von ihnen in den Abgrund zerren zu lassen. Noch nicht. Nicht auf diese Weise. Wenn ich dorthin verbannt werde, dann während der Beschwörung von Avebury.
Und ich werde nicht kampflos untergehen.
Ein letztes Mal suche ich die Ebene mit meinen Blicken ab, in der Hoffnung, irgendwo meine Schwester zu entdecken, die sich mir nähert. Es ist das erste Mal, dass sie nicht zu mir kommt, wenn ich ihretwegen in den Anderswelten bin, das erste Mal, dass ich ihre Abwesenheit mit Enttäuschung registriere. Aber ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken. In meine Verwirrung mischt sich Unbehagen, und so schließe ich die Augen, schicke mich selbst wieder zurück in die wirkliche Welt, während ich doch die ganze Zeit über Alice nachdenke. Wo ist sie? Und was kann sie nur davon abhalten, sich in den Anderswelten zu zeigen, die ihr Reich waren, lange bevor ich sie überhaupt entdeckte?
36
A m nächsten Tag reiten wir, so schnell wir können, obwohl es für meine Begriffe lange nicht schnell genug ist. Edmund reitet voraus und treibt uns an, soweit er das bei Helenes Unerfahrenheit im Sattel und Tante Virginias nicht zu übersehender Erschöpfung wagt.
Noch drei Tage bis Beltane. Ich bin übernervös, jede Sinneswahrnehmung gräbt sich wie ein Dolch in mein Bewusstsein. Meine Nerven zittern vor Erwartung, obwohl ich andererseits nicht das Gefühl habe, mich beeilen zu müssen. Es ist schwer, meinem Körper das Äußerste abzuverlangen, wenn mir zwischen den Albträumen kaum Schlaf vergönnt ist – Albträume, in denen ich von den Seelen und in letzter Zeit immer öfter von Samael persönlich gejagt werde. Sie verfolgen mich, noch lange nachdem ich aufgewacht bin, denn in diesen Albträumen kommen sie nicht als meine Nemesis. Diesmal ist es anders. In diesen Albträumen heißt mich Samael willkommen.
Und ich ihn.
Sie spielen mit meinen schlimmsten Befürchtungen: dass ich nicht stark genug bin. Dass durch mich das Chaos in die Welt eintritt.
Ich will nicht, dass die anderen glauben, sie hätten ihre Hoffnung auf jemanden gesetzt, der nicht mehr an sich selbst glaubt. Und so bewahre ich diese Ängste in meinem Herzen, halte sie vor aller Welt geheim.
Wir reiten jetzt langsamer und halten Ausschau nach einem Lagerplatz für die Nacht, als Tante Virginia ihr Pferd neben mich lenkt. Sie möchte mir offenbar etwas sagen, aber wir reiten noch eine Weile schweigend Seite an Seite, bis sie schließlich spricht.
»Es tut mir leid, Lia.«
Überrascht blicke ich sie an. »Was denn?«
Sie seufzt müde. »Dass ich darauf bestanden habe, mitzukommen. Dass ich euch wie ein Klotz am Bein hänge, ausgerechnet jetzt, da Eile geboten ist.«
»Sei nicht albern. Helene ist zehnmal langsamer als du. Es hätte keine Rolle gespielt, ob du in London geblieben wärst. Wir kämen trotzdem nicht schneller voran.« Ich lächle sie an.
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