Magie und Schicksal - 2
nähern, und wenn sie mich fangen – egal, ob Traum oder nicht –, dann werde ich nie mehr aufwachen. Dann bin ich auf ewig im Abgrund gefangen. «
Eine Weile sagt er gar nichts, und ich frage mich allen Ernstes, ob ich vielleicht doch verrückt geworden bin. Ob er über meinen Geisteszustand nachdenkt und überlegt, wie er darauf reagieren soll. Aber dann atmet er tief durch und sagt sanft: »Sie können dich nur dann in den Abgrund ziehen, wenn sie deine Seele in den Anderswelten gefangen setzen, und du meintest doch, dass du nicht mit den Schwingen reist.«
»Richtig.«
»Aber… wieso dann? Wenn du nicht glaubst, dass du mit den Schwingen reist, warum fürchtest du dann, im Abgrund eingeschlossen zu werden?«
Ich zögere mit der Antwort, denn was soll ich machen, wenn er mir nicht mehr vertraut? Wenn er an meinem Entschluss zweifelt, das Tor zu schließen. Ich denke an James, an meine Weigerung, ihm die Wahrheit zu sagen, und an die Konsequenz, die daraus erwuchs. Will ich Dimitri auch noch verlieren? Will ich zulassen, dass ein Keil zwischen uns getrieben wird, weil ich in seiner Gegenwart nicht ich selbst sein will?
Ich schaue ihn an. »Manchmal glaube ich, dass sie in meinem Kopf sind. Als ob nichts ist, wie es scheint, und sie mich nach Belieben manipulieren. Als ob alles, woran ich glaube, nur ein Trugbild meiner eigenen Fantasie ist. Ich bin nie ganz sicher, ob meine Wahrnehmung auch der Wirklichkeit entspricht. Ich muss an meinen Vater denken und daran, wie er ihren Verlockungen erlag und mit den Schwingen reiste, ohne es zu wollen. Ich weiß jetzt, warum er so verwundbar war, als die Seelen in Gestalt meiner Mutter auftraten.« Ich zwinge mich fortzufahren. Wenn ich ehrlich zu Dimitri sein will, wenn ich an seine Liebe glaube, dann muss ich alles sagen. »Vielleicht reise ich im Schlaf nicht mit den Schwingen, aber die Wahrheit ist, dass ich mir selbst nicht so weit traue, um ganz und gar sicher zu sein.«
Er zieht mich an sich und schlingt seine Arme um mich.
In diesem Moment fühle ich, dass nichts uns trennen kann, weder in dieser Welt noch in irgendeiner anderen.
»Das ist egal.« Er küsst mich auf den Kopf. »Ich vertraue dir. «
Und als er mich in eine fiebrige Umarmung zieht, weiß ich, dass er die Wahrheit spricht.
28
W ir sind noch etliche Meilen von London entfernt, als wir bereits den Rauch der Straßenlaternen in den Abendhimmel steigen sehen. Ich würde gerne behaupten, dass ich mich freue, die Stadt in der Ferne aufragen zu sehen. Sie ist meine Heimat geworden, seit ich New York verlassen habe. Aber es ist unmöglich, mich einem so einfachen Eindruck hinzugeben, weil so viele Gefühle mein Herz durchwühlen. Ich bin froh, dass ich wieder in einem anständigen Bett schlafen kann, obwohl der Schlaf nicht länger mein Freund ist. Ich freue mich auf Tante Virginia, auf ihre einzigartige Herzenswärme und ihre stille Kraft.
Aber es gibt auch andere Dinge, dir mir schwer auf dem Herzen liegen. Ich muss Sonia und Luisa gegenübertreten und damit meiner eigenen Fehlbarkeit, meiner Unfähigkeit zu verzeihen. Ich werde ihnen erzählen müssen, dass ich den Verlockungen der Seelen erlegen bin. Ich werde die vier Schlüssel zusammenführen müssen, werde Brigid
in eine von Spannung und Misstrauen geprägte Gemeinschaft bringen.
Am meisten bekümmert mich mein bevorstehendes Gespräch mit Alice. Ich muss versuchen, sie auf unsere Seite zu ziehen, obwohl im Augenblick nichts unmöglicher erscheint als ein Sinneswandel meiner Schwester.
»Machst du dir Sorgen?«, fragt Brigid leise, während wir an einer müde wirkenden jungen Mutter mit zwei kleinen Kindern vorbeikommen, die London verlassen.
Ich nicke, beschämt und erleichtert zugleich, dass sich meine Gefühle nun so deutlich auf meinem Antlitz widerspiegeln. Ich habe nicht mehr die Kraft, sie vor der Welt zu verbergen.
Sie lächelt. »In deinem Herzen wohnt eine große Güte. Deine Freundinnen wissen das. Ich bin ganz sicher, dass sie Verständnis für dich haben.«
Ich streiche Sargent gedankenverloren über den Hals. »Das hoffe ich. Ich fürchte … nun, ich fürchte, ich war ihnen keine besonders gute Freundin.«
»Wir machen alle Fehler, meinst du nicht auch?«, sagt sie. »Aber wir vergeben anderen Menschen, in der Hoffnung, dass sie uns die gleiche Gnade erweisen.«
»Vielleicht. Aber genau das ist es ja. Ich habe ihnen ihre Fehler nicht so leicht vergeben, wie du mir meine vergeben hast. Und nun …« Ich seufze. »Ich
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