Magie und Schicksal - 2
den Schultern. »Jetzt haben wir Gewissheit.«
Ich starre ins Feuer, weiche seinem Blick aus. »Nutzen wird es uns nichts.«
Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie er sich mit der Hand durchs Haar fährt. »Wir warten einfach ab. Wir versuchen, Alice weiter zu bearbeiten, und warten bis nächstes Jahr, bis Beltane in einem Jahr. Es muss doch nicht dieses Jahr sein.«
Ich lege den Kopf auf die Knie und schaue ihn von unten her an. »Ich kann nicht länger warten, Dimitri.«
»Doch.« Er nickt inbrünstig. »Doch, du kannst. Die Prophezeiung schreibt kein bestimmtes Jahr vor. Sie sagt nur, dass sich alle am Vorabend von Beltane in Avebury einfinden müssen. Wenn es noch ein Jahr dauert, um Alice zu überzeugen, dann dauert es eben noch ein Jahr. Und wenn es zehn Jahre dauert – was macht das schon?«
Ich lächle leicht. »So lange halte ich nicht durch, und das wissen wir beide. Die Seelen haben mich bereits geschwächt. Mein Bündnis mit den Schlüsseln ist zerbrechlich, und ich weiß nicht, ob ich Helene überzeugen kann, noch ein ganzes Jahr zu bleiben. Es muss jetzt sein.«
»Aber wie, wenn Alice uns nicht freiwillig hilft? Wir könnten sie zwar mit Gewalt nach Avebury schleppen, aber es gäbe keine Möglichkeit, sie zu zwingen, an dem Ritual teilzunehmen.«
»Ich habe keine Antwort auf deine Frage, Dimitri. Noch nicht.« Ich schließe die Augen. »Ich weiß nur, dass ich nicht länger warten kann. Ich bin so müde.«
Er steht auf und beugt sich über mich. Ehe ich noch
protestieren kann, nimmt er mich in seine Arme und trägt mich zum Bett. Seine Arme sind stark, und ich habe das Gefühl, dass er mich bis zum Ende der Welt tragen könnte, ohne die Kraft zu verlieren.
»Was tust du da?«, will ich wissen.
Sein Gesicht ist sehr nah bei meinem. Seine Augen sind bodenlose Brunnen aus flüssigem Onyx. »Ich bringe dich ins Bett, damit du schlafen kannst.«
Vor dem Bett stehend, lässt mich Dimitri sanft auf die Matratze gleiten und zieht mir die Decke bis zu den Schultern. Behutsam setzt er sich auf die Bettkante und küsst mich sanft. Seine Lippen sind so weich.
»Morgen früh sieht alles schon ganz anders aus, wart’s nur ab. Jetzt schlaf, meine Geliebte.«
Es kommt mir unmöglich vor, aber innerhalb von Sekunden gleite ich in die Dunkelheit ab.
Dimitris Gesicht ist das Letzte, was ich sehe.
Ich bin wieder im Abgrund und Samael ist näher als je zuvor. Der faulige Gestank der Seelen ist überwältigend. Ich fühle den heißen Atem ihrer Pferde in meinem Rücken.
Selbst im Traum bin ich müde. Mit trägen Bewegungen sporne ich mein Pferd an, versuche, dem Untier und seiner Armee aus gefallenen Engeln zu entkommen. Aber ein Teil von mir hat erkannt, dass es zwecklos ist. Mein Pferd wird langsamer, bis ich mit einem gewaltigen Ruck aus dem Sattel gerissen werde.
Hart schlage ich auf dem Eis auf, aber ich merke es
kaum. Ich fühle den Schmerz nicht so, wie ich ihn in meiner Welt empfinden würde. Und ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken. Samaels Horde kreist mich ein, wie ich da auf dem Eis liege. Es ist vorbei.
Jetzt werde ich zu einem ewigen Sterben unter dem Eis verdammt.
Aber erst wird Er kommen.
Ich höre das Pferd schnauben, während es durch die Seelen schreitet, die ihm respektvoll Platz machen. Das Schnauben klingt ärgerlich, vielleicht, weil ich so lange geflohen bin. Ich fühle den Herzschlag, zunächst als ein dumpfes Grollen in meiner Brust, das von innen heraus vibriert und immer stärker wird, immer näher kommt. Bald schon höre ich es auch. Nicht nur das Herz von Samael, dem Untier, sondern auch mein eigenes, das im Einklang mit seinem schlägt.
Es ist ein seltsames Gefühl, aber tröstlich, und wenn ich meine Augen schließe, kann ich mir einbilden, im Leib meiner Mutter zu liegen. Ich entspanne mich auf dem Eis, ergebe mich diesem pochenden Herzen, während die Federn von Samaels Flügeln wie schwarze Schneeflocken meinen Leib streicheln. Sie sind sanft auf meinem Gesicht, sanft wie ein Kuss.
Und ich denke: Es ist alles ganz einfach .
Ich erwache am ganzen Leib zitternd. Meine Zähne klappern und meine Knochen fühlen sich an, als wären sie zu Brei geschlagen worden.
»Was …? Was ist…?«
»Lia! Wach auf, Lia!« Dimitris Gesicht schwebt über meinem, und ich frage mich unwillkürlich, warum er mich nicht schlafen lässt.
Er wollte doch, dass ich schlafe, oder nicht? Oder war das nur ein Traum?
Ich bin verwirrt, orientierungslos, und ich schaue mich um.
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