Magie
letzten Tages hatte seine Wahrnehmung begonnen, ihn im Stich zu lassen. Zuerst nahm er seine Umgebung nicht mehr wahr, es sei denn, jemand machte ihn darauf aufmerksam. Dann waren Dakon, Tessia und Werrin nur noch Schatten für ihn, die stets in der Nähe sein sollten, und erst wenn sie das nicht mehr waren, erwachte er aus diesem Zustand. Als dann das körperliche Ungemach zunahm und er sich bemühte, den Schmerz zu ignorieren, war er schließlich während des größten Teils der langen Stunden auf der Straße ganz und gar in seinen Gedanken gefangen und vertraute darauf, dass sein Pferd ihn in der Nähe der anderen halten würde.
Ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn, als sie in das Tal hinabritten, das er nun schon so lange sein Zuhause nannte. Eine Vorahnung vielleicht. Er war davon überzeugt, dass etwas Schlimmes geschehen würde. Aber während Dakon als Erster die Brücke überquerte und nach Mandryn hineinritt, stellte Jayan fest, dass er außerstande war zu sprechen. Außerstande, sich zu bewegen, an den Zügeln zu ziehen und sein Pferd anzuhalten. Außerstande, nicht die Leichen anzustarren, die überall verstreut lagen: auf der Straße, in Hauseingängen und offenen Fenstern. Er betrachtete sie, konnte aber keine Einzelheiten sehen. Die Erschöpfung trübte seinen Blick, und sein Bewusstsein zerfaserte. Seine Ohren waren taub. Oder vielleicht war es nur die Stille und das Schweigen eines Dorfes, das einzig von Toten bewohnt war.
Dann hörte er doch etwas. Schritte. Das sinnliche, metallische Sirren einer Klinge. Er blickte zu Dakon hinüber, der vor ihnen herging. (Wann waren sie abgesessen? Er war so müde, er musste es getan haben, ohne es wahrzunehmen.) Der Magier schien nichts gehört zu haben. Jayan öffnete den Mund, um eine Warnung zu rufen, aber kein Laut kam über seine Lippen. Es ist ein Hinterhalt! wollte er schreien. Passt auf! Aus der Dunkelheit traten undeutliche Gestalten. Ein grelles Licht flammte auf, und …
»Jayan.«
Jayan riss erschrocken die Augen auf und betrachtete blinzelnd
seine Umgebung. Es saß wieder auf dem Pferd. Er war nicht in Mandryn. Die Straße führte einen Hügel hinauf, aber das Pferd war stehen geblieben.
»Jayan! Wach auf!«
Tessia. Die erste Stimme war eine andere gewesen. Dakon. Er richtete sich auf und drehte sich im Sattel um; die beiden waren mehrere Schritte hinter ihm und starrten ihn an. Werrin, der Magier des Königs, runzelte die Stirn.
Ich bin im Sattel eingeschlafen, dachte er. Ein Glück, dass ich nicht heruntergefallen bin. Dann lächelte er schief. Endlich beherrsche ich die Fähigkeit, im Sattel zu schlafen, und was tue ich? Ich habe einen Alptraum.
Er wendete sein Pferd und lenkte es wieder zurück auf die Straße, zu den anderen. Dakons Miene war grimmig. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Tessia war bleich, aber ihre Augen leuchteten.
Während der ersten Tage ihrer Reise hatte Jayan sich zu seinem eigenen Ärger ständig um Tessia gesorgt. Wie erwartet, hatte sie sich nicht ein einziges Mal beklagt und war schweigsam und entschlossen den ganzen Tag hindurch geritten. Weil er wusste, dass sie das tun würde, hatte er sich Sorgen gemacht, dass sie nichts sagen würde, wenn sie litt, und dass sie hinter sie zurückfallen würde. Aber während der letzten Tage war er so gefangen gewesen in seiner eigenen Erschöpfung, dass er nicht mehr hatte tun können, als ab und zu nachzusehen, ob sie noch immer bei ihnen war, und er fühlte sich schuldig deswegen.
»Lord Werrin und ich werden von hier aus allein weiterreiten«, sagte Dakon. »Du und Tessia, ihr werdet hier warten.«
Jayan runzelte die Stirn, dann sah er sich abermals um und war erschrocken, als er seine Umgebung erkannte. Sie waren nicht mehr weit von Mandryn entfernt; er kannte diesen Teil der Straße von morgendlichen Ausritten mit Dakon.
Tessia sah aus, als hätte sie protestiert, wäre sie nicht zu müde dazu gewesen. Jayan empfand genauso. Falls mehr als ein oder zwei Sachakaner das Dorf beobachteten, bereit, jeden Magier, der dort erschien, anzugreifen, war es sehr wahrscheinlich,
dass sie alle vier sterben würden. Dakon hielt es unzweifelhaft für sinnlos, Jayans und Tessias Leben aufs Spiel zu setzen. Jayan beobachtete, wie Werrin sein Pferd antrieb, die beiden Männer den Hügel hinaufritten und schließlich hinter dem Gipfel verschwanden.
»Ich sollte in der Nähe bleiben, nicht wahr?«, fragte Tessia leise. »Sicherer für mich und ihn oder etwas in der
Weitere Kostenlose Bücher