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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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dem Schoß des Todes entrissen.
    Ausnahmslos alle Lebenden seien Spreu, Abfall, Verbrecher, zur tagtäglichen Lebensqual verdammt für ein von uns längst vergessenes, doch gewiß schwerwiegendes Vergehen. Einige von uns trügen geringere Schuld und brauchten nur kurz auf der Erde zu verweilen. Solche kehrten schon als Säuglinge in den Tod zurück. Andere, auf denen größere Schuld laste, würden zu schwerer Zwangsarbeit für die |77| Dauer von 70, 80, manchmal sogar 100 Jahren verurteilt. Die bis ins hohe Alter leben, seien schlimme Übeltäter, die keine Nachsicht verdienten. Und doch vergebe der Tod in seiner unendlichen Gnade früher oder später einem jeden.
    An dieser Stelle hielt es Ihr gehorsamer Diener nicht aus und unterbrach den Redner.
    »Interessant. Die Lebensdauer wird also nicht von Gott festgelegt, sondern vom Tod?«
    »Von mir aus auch von Gott, nennen Sie das, wie Sie wollen. Nur ist der Richter, den die Menschen Gott getauft haben, keineswegs der Allmächtige Herr, sondern nur eine Hilfskraft im Dienst des Todes.«
    »Eine gruselige Vorstellung!« rief ich.
    »Durchaus nicht«, tröstete mich der Doge. »Gott ist streng, aber der Tod ist barmherzig. Aus Liebe zu den Menschen hat ER uns mit dem Selbsterhaltungstrieb ausgestattet, damit wir nicht unter den Mauern unseres Gefängnisses leiden und uns fürchten, daraus zu fliehen. Auch hat ER uns die Gabe des Vergessens geschenkt. Wir haben keine Erinnerung an unsere wahre Heimat, an das verlorene Paradies. Sonst würde keiner von uns die Qual des Eingesperrtseins länger ertragen wollen, und es begänne eine allgemeine Selbstmordorgie.«
    »Was wäre – von Ihrem Standpunkt aus – daran schlecht? Sie rufen doch wohl Ihre Mitglieder zum Selbstmord auf?«
    »Der nicht genehmigte Selbstmord, das ist Flucht aus dem Gefängnis, das heißt, ein Verbrechen, das mit einer neuen Haft bestraft wird. Nein, aus dem Leben fliehen darf man nicht. Aber man kann sich eine Begnadigung verdienen, das heißt, eine Verkürzung der Frist.«
    »Und wie soll das zugehen, wenn ich fragen darf?«
    »Durch Liebe. Man muß den TOD mit ganzem Herzen liebgewinnen. Man muß ihn anlocken, ihn rufen wie eine kostbare Geliebte. Und warten, demütig warten auf sein Zeichen. Und wenn das Zeichen kommt, ist es nicht nur möglich, Hand an sich zu legen, sondern es ist sogar Pflicht.«
    |78| »Sie sprechen vom Tod wie von einer Liebsten, dabei sind unter Ihren Anhängern doch auch Frauen.«
    »Das Wort ›Tod‹ ist im Russischen weiblich. Im Deutschen ist es bekanntlich männlich – der Tod. Für einen Mann ist der Tod die Ewige Braut, für eine Frau der Ewige Bräutigam.«
    Hier stellte ich eine Frage, die mir seit Beginn dieses furchtbaren Dialogs keine Ruhe ließ. »Aus Ihren Reden klingt der unerschütterliche Glauben an die Richtigkeit Ihrer Ansichten. Woher wollen Sie das alles wissen, wo doch der Tod dem Menschen die Erinnerung an sein früheres Sein, das heißt, Pardon, Nichtsein genommen hat?«
    Der Doge antwortete mit feierlicher Miene: »Es gibt Menschen, selten freilich, denen der Tod die Gabe des Vergessens entzogen hat, so daß sie die Fähigkeit besitzen, beide Welten zu schauen: die des Seins und die des Nichtseins. Ich bin einer dieser Menschen. Ein Gefängnisdirektor muß ja auch in jeder Zelle einen Ältesten aus den Reihen der Häftlinge haben. Dieser hat die Pflicht, seine Schutzbefohlenen zu beaufsichtigen und zu belehren und der Direktion diejenigen zu empfehlen, die Nachsicht verdienen. Schluß jetzt, keine weiteren Fragen. Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.«
    »Nur eine letzte noch!« rief ich. »Wieviel Schutzbefohlene haben Sie in Ihrer ›Zelle‹?«
    »Zwölf. Ich weiß aus Zeitungen, daß die Zahl der Interessenten, die sich uns anschließen wollen, viel höher ist, aber unser Klub öffnet sich nur Auserwählten. Denn: Liebhaber oder Liebhaberin des TODES zu werden, das ist ein kostbares Los, die höchste Auszeichnung für einen Lebenden …«
    Mir wurden von hinten die Augen verbunden, dann zog mich jemand zum Ausgang. Das Gespräch mit dem Dogen, dem Oberpriester der Selbstmörderkaste, war beendet.
    Ich versank in Dunkelheit und erbebte unwillkürlich bei der Vorstellung, für ewig in der den »Liebhabern« so teuren Schwärze zu bleiben.
    Nein, Herrschaften, sagte ich in Gedanken, als ich wieder unter dem |79| blauen Himmel im hellen Sonnenschein stand, selbst wenn ich ein verurteilter Verbrecher bin, »Nachsicht« brauche ich nicht, ich ziehe

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