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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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es vor, meine Strafe bis zu Ende abzusitzen.
    Was würden Sie vorziehen, lieber Leser?
    Lawr Shemailo
    »Moskauer Kurier« vom 29. August (11. September) 1900, Seite 2

2.
Aus dem Tagebuch von Colombina
    Ihre Atlasschuhchen berühren kaum den Boden
    »Die arme Colombina, die hirnlose Puppe, hängt in der Luft. Ihre Atlasschuhchen berühren kaum den Boden, der geschickte Puppenspieler zieht die dünnen Fäden, und die Marionette klatscht in die Händchen, verbeugt sich, weint, lacht.
    Ich denke jetzt fortwährend nur über das eine nach: was die Worte, die er sagte, bedeuten; in welchem Ton er sie sagte; wie er mich dabei ansah; warum er mich überhaupt nicht ansah. Oh, wie erfüllt ist mein Leben von starken Gefühlen und Eindrücken!
    Gestern sagte er zum Beispiel so nebenbei: »Du hast die Augen eines grausamen Kindes.« Ich habe dann lange gegrübelt, ob das gut oder schlecht ist – ein grausames Kind. Von seinem Standpunkt aus sicherlich gut. Oder schlecht?
    Ich habe gelesen, daß alte Männer (und er ist sehr alt, er hat Karakosow gekannt, der vor fünfunddreißig Jahren gehängt wurde) brennende Wollust für junge Mädchen empfinden. Aber er ist überhaupt nicht wollüstig. Er ist kalt und |80| gleichgültig. Nach dem ersten Verschmelzen während des Gewitters, als vor den Fenstern die vom Orkan attackierten Bäume sich bogen, hat er mich nur noch einmal dabehalten. Das war vorgestern.
    Ohne Worte, nur mit Gesten, befahl er mir, die Kleidung abzulegen, mich auf das Bärenfell zu legen und mich nicht zu rühren. Er bedeckte mein Gesicht mit einer totenstarren weißen venezianischen Maske. Durch die schmalen Sehschlitze sah ich nur die im Halbdunkel hell schimmernde Zimmerdecke.
    So lag ich lange, ohne Bewegung. Es war sehr still, nur die Kerzenflammen knisterten kaum hörbar. Ich dachte: Er schaut mich an, die Schutzlose, beraubt jedweder Hülle und sogar des Gesichts. Das bin nicht ich, das ist namenloses Frauenfleisch, eine Puppe aus Guttapercha.
    Was empfand ich?
    Neugier. Ja, Neugier und einen wohligen Schauer vor dem Ungewissen. Was wird er tun? Wo wird er mich zuerst berühren? Wird er mich küssen? Oder peitschen? Wird er heißes Kerzenwachs auf mich tropfen lassen? Ich war bereit, alles von ihm hinzunehmen, aber die Zeit verstrich, und nichts geschah.
    Mir wurde kalt, ich bekam eine Gänsehaut. Kläglich sagte ich: »Wo sind Sie? Ich friere.« Keine Antwort. Da nahm ich die Maske ab und setzte mich auf.
    Im Schlafzimmer war niemand, bei dieser Entdeckung befiel mich ein Zittern. Er war verschwunden!
    Dieses unerklärliche Verschwinden ließ mein Herz stärker hämmern als die glühendste Umarmung.
    Ich habe lange darüber nachgedacht, was das bedeuten mochte. Die ganze Nacht und den ganzen Tag zermarterte ich mir das Hirn, um eine Antwort zu finden. Was |81| wollte er mir sagen? Was für Gefühle hegte er für mich? Ohne Zweifel war es Leidenschaft. Nur war die nicht heiß, sondern eisig wie die Polarsonne. Aber nicht minder sengend.
    Ich schreibe dies erst jetzt in mein Tagebuch, weil der Sinn des Geschehens mir plötzlich aufgegangen ist. Beim erstenmal hat er nur meinen Körper in Besitz genommen. Beim zweitenmal hat er sich meiner Seele bemächtigt. Die Initiation war vollzogen.
    Jetzt bin ich sein Eigentum, so wie ein Rasiermesser oder ein Paar Handschuhe. Wie Ophelia.
    Zwischen den beiden ist nichts, davon bin ich überzeugt. Das heißt, das Mädchen ist natürlich in ihn verliebt, aber er braucht sie nur als Medium. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mann für diese Somnambule in Leidenschaft entflammen könnte. Über ihr durchscheinendes Gesicht irrlichtert ewig ein seltsames unschuldiges Lächeln, ihre Augen blicken zärtlich, doch entrückt. Fast nie macht sie den Mund auf, allenfalls während der Seance. Aber sie ist wie verwandelt, wenn sie in Verbindung mit dem Jenseits tritt. Irgendwo in ihrem zierlichen Körper scheint eine helle Lampe zu brennen. Petja meint, daß sie nicht ganz richtig im Kopf ist und in eine Klinik gehört, daß sie wie im Schlaf lebt. Ich weiß nicht. Mir kommt es eher so vor, daß sie nur als Medium auflebt und sie selbst wird.
    In mir selbst vermischen sich Traum und Wirklichkeit. Der Traum – das ist spätes Aufstehen am Morgen, Frühstück, notwendige Einkäufe. Die Wirklichkeit beginnt gegen Abend, wenn ich versuche, Gedichte zu schreiben, und mich zum Ausgehen zurechtmache. Aber endgültig wach werde ich erst in der neunten Stunde, wenn ich durch die

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