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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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vermochte sie viel. Einmal, vorletztes Jahr, verschwand bei uns ein dreijähriges Jungchen und wurde nicht gefunden. Saschenka saß eine ganze Weile da, bewegte die Lippen und sagte dann: ›Im alten Brunnen müßt ihr suchen.‹ Und da fanden sie ihn, lebendig, er hatte sich nur den Arm gebrochen. So war sie. Und gesprochen hat sie immer nur von Wundern und Geheimnissen. In ihrem Zimmer hatte sie einen ganzen Schrank voller Bücher, Märchen, übers Wahrsagen, auch Romane über Feen und Zauberer.«
    Ophelias Mutter warf einen Blick auf Colombina.
    »Sie waren mit ihr befreundet? Was für ein nettes Mädchen Sie sind, und so bescheiden gekleidet, nicht wie sonst die |160| heutigen Frauen. Weinen Sie nicht. Ich habe selber so viel geweint. Aber was hilft das Weinen. Saschenka ist jetzt im Himmel, da kann Vater Innokenti über Selbstmörder reden, was er will.«
    Nun flossen Colombinas Tränen erst richtig, unendlich leid tat es ihr um Ophelia und deren verlorene Wundergabe.
    Die verheulte Todesanbeterin verbarg die geröteten Augen vor Gendsi und schneuzte sich. Ist nicht so schlimm, sagte sie sich, im Tagebuch werde ich es anders beschreiben. Um nicht wie ein Dummchen dazustehen. Zum Beispiel so: »In Colombinas Augen glitzerten Tränenkristalle, doch die Flatterhafte schüttelte den Kopf, da flogen die Tränen weg. Es gibt auf der Welt nichts, worum man länger als eine Minute trauern müßte. Ophelia hatte getan, was sie für richtig hielt. Die Tränenkristalle galten nicht ihr, sondern der armen alten Frau.« Und ein Gedicht könnte sie schreiben. Die erste Strophe ergab sich von selbst:
     
    Tränenkristalle von den Wimpern schüttelnd
     
    »Erzählen Sie, was geschah in jener Nacht?« bat Gendsi, nachdem er sich taktvoll von Colombina abgewandt hatte. »Warum ist sie plötzlich losgelaufen und hat sich ertränkt?«
    »Da war nichts Besonderes.« Die Beamtenwitwe breitete die Arme aus. »Sie kam spät nach Hause, später als sonst. Ich habe Saschenka ihre Freiheit gelassen. Ich wußte, daß sie nichts Schlechtes tun würde. Sie kam oft spät nach Hause, beinahe jeden Tag, aber ich wartete immer auf sie. Und setzte ihr nie mit Fragen zu, wo sie gewesen war und was sie getan hatte. Wenn sie wollte, erzählte sie von selbst. Sie war ganz anders als die anderen Mädchen, etwas Besonderes. Ich habe dagesessen und gewartet, und der Samowar stand bereit. Saschenka aß nur wenig, wie ein Spatz, aber sie trank gern Tee, |161| Lindenblütentee … Also, ich hörte eine Kutsche kommen. Gleich darauf trat sie ein. Ihr Gesicht leuchtete – so hatte ich sie noch nie gesehen. Da hielt ich’s nicht aus und drang in sie: ›Was ist geschehen? Wieder ein Wunder? Oder hast du dich verliebt?‹ – ›Fragen Sie nicht, Mama‹, hat sie gesagt. Aber ich kannte sie gut genug, bin ja auch nicht erst seit gestern auf der Welt. Und mir war klar: Sie kam von einem Rendezvous, von einem Liebestreffen. Da kriegte ich’s mit der Angst, freute mich aber auch.«
    Colombina zuckte zusammen und erinnerte sich an den Abend, als Prospero Ophelia geheißen hatte zu bleiben. Oh, dieser Peiniger! Tyrann der armen Puppen! Aber sollte sie auf eine Tote eifersüchtig sein? Überhaupt war Eifersucht ein banales, würdeloses Gefühl. Wenn du viele Rivalinnen hast, heißt das, du hast dir ein würdiges Objekt deiner Liebe ausgesucht, sagte sie sich, doch dann kam sie ins Nachdenken: Wer war denn nun das Objekt ihrer Liebe, Prospero oder der TOD? Unwichtig. Sie versuchte, sich den Ewigen Bräutigam vorzustellen, und sie sah ihn nicht als jungen Zarewitsch vor sich, sondern als alten Mann mit graumeliertem Haar, strengem Gesicht und schwarzen Augen.
    »Nur eine Tasse Tee hat sie getrunken«, fuhr die Witwe fort. »Dann stellte sie sich hier vor den Spiegel, was noch nie vorgekommen war. Drehte sich hin und her. Lachte leise und ging dann in ihr Zimmer. Nach kaum einer Minute kam sie wieder heraus, hatte nicht mal die Schuhe gewechselt. Ihr Gesicht sah immer noch ganz besonders aus. Aber die Augen waren wie zwei durchsichtige Eiskristalle. Ich erschrak. ›Was ist mit dir?‹ hab ich gefragt. Darauf sie: ›Leben Sie wohl, Mama. Ich gehe.‹ Sie war gar nicht mehr hier, war schon weit weg, hat mich nicht angesehen. ›Ich habe das Zeichen erhalten.‹ Ich stürzte zu ihr, nahm ihre Hand, konnte nicht |162| begreifen. ›Wo willst du denn hin in der Nacht? Und was für ein Zeichen?‹ Da hat sie gelächelt und gesagt: ›Ein Zeichen, das nicht zu

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