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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Colombina eben erst gekommen, und sie fand ihn ungemein markant und provokativ, aber ihr prosaischer Gesprächspartner reagierte nicht, er faltete mürrisch die Zeitung zusammen.
    Sie verließen das Café und schlenderten durch die Straßen – Kusnezki Most, Teatralny Projesd. Ihnen entgegen kam ein Demonstrationszug vom Ochotny Rjad, vornweg die Mitglieder der Stadtduma, um den jüngsten Sieg der russischen Waffen in China zu bejubeln. General Rennenkampf hatte Tu-Tschang und Tsiangan eingenommen. Die Leute trugen Porträts des Zaren, Ikonen und Kirchenbanner und riefen im Chor »Hurra Rußland!«
    Sie waren erhitzt, rotgesichtig, glücklich, zugleich aber wütend, als hätte jemand sie beleidigt.
    |197| »Schauen Sie«, sagte Colombina. »Sie sind grob, betrunken und grimmig, aber sie sind Patrioten und lieben ihre Heimat. Sehen Sie nur, wie sie sich freuen, dabei sollte man denken, was kann diesen Krämern schon Tsiangan bedeuten? Sie und ich, wir sind gebildet, höflich, sauber angezogen, aber Rußland kümmert uns nicht.«
    »Die und Patrioten?« Gendsi zuckte die Achseln. »Sch-Schreihälse sind das. Ein legaler Vorwand zum Krakeelen, mehr nicht. Wahrer Patriotismus, wie auch wahre Liebe, macht sich nicht mit Geschrei bemerkbar.«
    Sie wußte nicht gleich zu antworten, überlegte. Nein, das stimmte nicht! Wahre Liebe macht sich wohl mit Geschrei bemerkbar, und wie! Sie stellte sich vor, daß sie einen Mann liebte, und der sollte ihr weggenommen werden, würde sie da etwa nicht schreien? Doch, und zwar so laut, daß die ganze Welt ertaubte. Im übrigen ist das wohl eine Frage des Temperaments, dachte sie seufzend. Den zugeknöpften Gendsi konnte man sicherlich in Stücke schneiden, ohne daß er schrie – das wäre unter seiner Würde.
    Plötzlich bekam sie Lust, ihn bei den Schultern zu packen und ihn so zu schütteln, daß sein makelloser Scheitel durcheinandergeriet.
    »Sind Sie denn nie aus der Ruhe zu bringen?« fragte sie.
    Er tat die Frage nicht mit einem Scherz ab, wechselte auch nicht das Thema wie sonst, sondern antwortete einfach und ernsthaft:
    »Ich war nicht immer so, Mademoiselle Colombina. In meiner Jugend habe ich mich wegen jeder Kleinigkeit aufgeregt. Aber das Schicksal hat meine Gefühle so oft und so grausam auf die Probe gestellt, daß ich jetzt nicht so leicht zu beeindrucken bin. Außerdem sagt Konfuzius: ›Ein zurückhaltender Mensch macht weniger Fehler.‹«
    |198| Wer Konfuzius war, wußte sie nicht. Gewiß ein antiker Weiser. Aber der Ausspruch gefiel ihr nicht.
    »Sie fürchten sich vor Fehlern?« Sie lachte verächtlich. »Ich zum Beispiel will mein ganzes Leben auf Fehler gründen – ich finde, etwas Schöneres gibt es nicht.«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Kennen Sie die östliche Theorie von der Wiedergeburt der Seelen? Nicht? Die Inder, Chinesen und Japaner glauben, daß unsere Seele nicht nur einmal, sondern viele Male lebt und nur die körperliche Hülle wechselt. Abhängig von Ihren Taten können Sie in Ihrem nächsten Leben erhöht werden oder degradiert zur Raupe oder D-Distel. In diesem Sinne sind Fehler sehr gefährlich – jeder Fehler entfernt Sie von der Harmonie und mindert Ihre Chancen, in würdigerer Form wiedergeboren zu werden.«
    Die letzte Bemerkung empfand Colombina als ziemlich kränkend, aber sie protestierte nicht, so sehr hatte die östliche Theorie ihre Phantasie beflügelt.
    »Ich möchte im nächsten Leben eine Libelle mit durchsichtigen Flügeln sein, oder nein, eine Schwalbe! Kann man vorher bestimmen, als was man das nächste Mal geboren wird?«
    »Bestimmen kann man es nicht«, sagte Gendsi, »aber erraten vielleicht, zumindest wenn man am Ende seines Lebens steht. Ein buddhistischer Glaubenslehrer behauptet, mit zunehmendem Alter bekomme der Mensch Gesichtszüge, aus denen sich ablesen läßt, als wer oder was er wiedergeboren wird. Finden Sie nicht, daß unser D-Doge zum Beispiel einem Uhu sehr ähnlich sieht? Wenn Sie in Ihrem nächsten Leben als flinke Schwalbe über einen dunklen Wald hinwegfliegen und Huhuu, Huhuu hören – seien Sie auf der Hut, es könnte der wiedergeborene |199| Herr Prospero sein, der Sie erneut in seine Netze locken will.«
    Sie prustete. Prospero mit seinen runden durchdringenden Augen, der Hakennase und den Hängebäckchen sah tatsächlich wie ein Uhu aus.
    Na schön, das Gespräch mit Gendsi kann ich weglassen, beschloß Colombina, aber das mit Prospero ist wichtig. Sie tunkte die Stahlfeder ins Tintenfaß und

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