Magier von Moskau
der Leierkastenmann war verstummt. Allem Anschein nach hatte keiner der Anwärter außer Colombina den Refrain des idiotischen Liedes beachtet, darum zeitigte Gdlewskis Mitteilung allgemeine Verständnislosigkeit.
|205| »Was denn für Not?« fragte Kriton verdutzt. »Wovon reden Sie, junger Mann?«
»Der Leierkasten«, erklärte Gdlewski aufgeregt. »Aber das ist ganz unwichtig! Auf den Reim kommt es an: aus Not, das ist es! Das Reimwort auf Tod! Das Zeichen! Ohne Zweifel! Das dritte! Ich bin auserwählt, auserwählt!«
»Moment mal!« Der Doge runzelte die Stirn. »Das sind doch Hirngespinste! Wo ist ein Leierkastenmann?«
Alle stürzten ans Fenster, aber die Gasse war leer – keine Menschenseele. Der Alte hatte sich in der zunehmenden Dunkelheit aufgelöst.
Gendsi drehte sich wortlos um und ging rasch in die Diele.
Alle wandten sich wieder dem Gymnasiasten zu.
Rosenkranz blickte Gdlewski voller Neid an.
»Warum er? Warum dieser Milchbart?« stöhnte Caliban. »Ist er vielleicht besser als ich? Soll das gerecht sein? Doge, Sie haben es doch versprochen!«
Prospero hob ärgerlich die Hand.
»Seid still, alle! Junge, der TOD duldet kein Falschspiel. Du schummelst! Ja, hier hat lange ein Leierkasten gekreischt, aber ich habe selbstverständlich nicht auf das Lied gehorcht. Vielleicht hat der Mann ja wirklich ein Wort gesungen, das sich auf ›Tod‹ reimt. Aber ein Lied hat viele Wörter, nicht bloß eines. Warum hast du ausgerechnet das Wort ›Not‹ herausgegriffen? Solch ein banales Wort! Du bist ja wie Rosenkranz mit seinem Fruchtsaft.«
Rosenkranz lief rot an. Ein paar Tage zuvor war er auch strahlend angekommen und hatte stolz erklärt, er sei ein Auserwählter des TODES, denn ihm sei ein deutliches und unstrittiges Zeichen gesandt worden. Nach seinen Worten habe er in der Speisewirtschaft Aljabjew in der Petrowka zu Abend gegessen, und man habe ihm »vom Haus« eine |206| Karaffe mit roter Flüssigkeit serviert. Auf seine Frage, was das sei, habe der Kellner geantwortet: »Mors 4 natürlich.« Da habe er das Abendessen stehenlassen und sei den ganzen Weg bis zu Prosperos Haus zu Fuß gelaufen.
Alle lachten in Erinnerung an diese Geschichte, aber Gdlewski gab nicht auf.
»Kein Falschspiel! Es ist doch Freitag, Herrschaften, der dritte in Folge! Ich habe die Nacht nicht geschlafen, denn ich wußte, daß es so kommen würde! Ich habe den Unterricht geschwänzt, bin vom frühen Morgen an durch die Straßen gelaufen und habe auf das Zeichen gewartet. Ich habe zufällige Gespräche belauscht, habe Aushänge und Ladenschilder gelesen. Das war keine Schummelei, sondern alles redlich und ehrlich. Am Arbat sah ich ein Ladenschild ›Aron Roth, Eisenwaren‹. Hundertmal bin ich schon vorbeigegangen, ohne den Laden wahrzunehmen. Der Atem hat mir gestockt! Das ist es! hab ich gedacht. Roth – Tod. Aber ich wollte jeden Zweifel ausschließen. Wenn ›Roth‹ das Ende der Zeile gewesen wäre, dann ja, doch sie endete auf ›Eisenwaren‹. Husaren, Barbaren, Fanfaren, Korsaren. Alles nicht das Richtige. Also weiter. Mir war flau ums Herz. Nein, dachte ich, auserwählt bin ich nicht, ich bin wie alle. Auf dem Weg hierher hätte ich fast geweint. Die letzte Hoffnung war, ein Buch aus dem Regal zu ziehen. Da bog ich um die Ecke und hörte: ›Man kurbelt nur aus Not! Man kurbelt nur aus Not! Man kurbelt nur aus Not!‹ Dreimal, Herrschaften, dreimal am Freitag ein Reimwort auf Tod, erst Brot, dann rot und jetzt Not! Es gibt keinen Zweifel mehr. Was guckt ihr so?« Der Gymnasiast lachte schadenfroh. »Aus Neid? Weil ich auserwählt bin und nicht ihr! Ich, der Jüngste! Na und? Ich bin ein Genie, aus mir hätte ein neuer Lermontow |207| werden können! Der TOD wählt die Besten aus, nicht die Schlechtesten. Zuerst Loreley, jetzt mich. Und auf Lermontow ist was gepfiffen! Und auf die Welt und auf euch alle! Dreht nur euer Roulette, kitzelt eure kümmerlichen Nerven! Ich sage euch ›adieu‹. Die Ewige Braut hat mich auserwählt, nicht euch!«
Er ließ den fiebrigen Blick herausfordernd über die Anwesenden gleiten und wandte sich, noch immer triumphal lachend, dem Ausgang zu.
»Halt! Komm sofort zurück!« rief ihm Prospero hinterher.
Umsonst.
»Diesem Lermontow hätte man im Guten die Ohren langziehen sollen!« sagte Horatio nachdenklich und strich seinen Spitzbart.
Caliban, weiß vor Wut, schwenkte die Faust.
»Frecher, überheblicher, aufgeblasener kleiner Pollack! Wie kann er es wagen, sich mit Lermontow
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