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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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leer und unwesentlich – eine Pause, ein Atemzug, die Stille, bevor der samtene Vorhang der Nacht sich auftat. Am Abend fing Colombinas feines Gehör die zwar noch unharmonischen, doch schon zauberischen |202| Klänge eines mystischen Orchesters auf, und es litt sie nicht mehr zu Hause.
    Ihre Absätze klackerten die violetten Straßen entlang, ihr entgegen schwebten die Wellen der erregend süßen Ouvertüre, und mit jedem Schritt wurde die brausende Melodie lauter.
    Colombina war auf alles gefaßt und hatte zum Zeichen ihrer Entschlossenheit Trauerfarben angelegt. Die demütige Gymnasiastin, die die Wissenschaft des Todes studierte, trug ein bescheidenes schwarzes Kleid mit weißem Krägelchen, eine lila Schürze mit Trauerborte, hatte die Haare zu zwei Vestalinnenzöpfen geflochten und mit purpurnem Band umwunden.
    Sie ging ohne Eile und dachte an Schönes. Daß der Freitag ein besonderer, schwarzer Tag sei, für alle Zeiten befleckt vom Blut des träumerischen Pierrot mit der reinen Seele, den grausame Arlecchinos vor neunzehn Jahrhunderten an Balken genagelt hatten. Die roten Tropfen trocknen niemals, sondern sickern fort, am Kreuz hinunter, schillernd und glitzernd in der Sonne, und der fünfte Tag der Woche ist erfüllt vom flimmernden Widerschein des Leids.
    In der Gasse, in die Colombina vom Boulevard einbog, ging die lautlose Ouvertüre zu Ende, und es erklang die erste Soloarie dieser unheilkündenden Oper – eine so absurde und komische Arie, daß die Phantastin fast hellauf gelacht hätte. Die Nacht machte sich über sie lustig: hatte sie zur Tragödie eingeladen und spielte ihr statt dessen eine Farce vor.
    Auf dem Gehsteig, ein paar Schritte vor Prosperos Haus, stand unter einer Laterne ein kahlköpfiger alter Leierkastenmann mit rotem Fes und dunkelblauer Brille. Er drehte wild die Kurbel seines krächzenden Instruments und grölte aus |203| vollem Halse, unheimlich mißtönend, ein albernes Lied, das er selbst verfaßt haben mochte.
    Du Leier, Leierkasten,
    Der Weg, er ist so weit!
    Du läßt mich niemals rasten
    Und brachtest mir nur Leid.
    Es hatte viele Couplets, aber vor allem ertönte ein Refrain, der ebenso plump war wie die übrigen Verse. Die stimmgewaltige Kehle wiederholte ihn immer von neuem:
    Ach, du lackierte Kurbel,
    Bringst mir kein Glück zurück.
    Man kurbelt nur aus Not!
    Man kurbelt nur aus Not!
    Man kurbelt nur aus Not!
    Colombina blieb ein paar Minuten stehen, hörte zu, lachte herzlich, warf dem lustigen Alten eine Münze zu und dachte: Solch ein Pessimist, obendrein ein Dichter, gehört doch eigentlich zu uns »Liebhabern«.
     
    »Heute drehen wir das Rad des TODES zum letztenmal«, verkündete der Doge den Anwesenden. »Wenn wieder kein Auserwählter benannt wird, denke ich mir ein neues Ritual aus.«
    Caliban und Rosenkranz warfen nacheinander die goldene Kugel in den bunten Kreis, und beide wurden vom TOD zurückgewiesen.
    »Ich weiß, wo der Haken liegt«, sagte der Spaßvogel Cyrano und zog die monumentale Nase in Falten. »Schuld ist der Krankenwagen, der den Prinzen Gendsi ins Leben zurückgeholt hat. Man kann sagen, er hat der Ewigen Braut den |204| Bräutigam unter der Hochzeitskrone weggestohlen. Darum ist die Gebieterin unserm Roulette böse. Wahrlich, lieber Gendsi, Sie müssen das Gift noch einmal trinken. Das Roulette zickt Ihretwegen.«
    Ein paar Leute belachten den gewagten Scherz. Gendsi lächelte höflich, und Prospero sah so unglücklich aus, daß er Colombina leid tat.
    »Nein, nein!« rief sie. »Lassen Sie mich mein Glück versuchen! Wenn der TOD den Männern böse ist, hat eine Frau vielleicht mehr Glück. Der Zarewitsch hat ja auch die Löwin der Ekstase gerufen!«
    Sie erschrak über ihre eigenen Worte. Wenn ihr nun der Totenkopf zufiel? Ihr Vorgefühl, die Trauerkleidung – eins paßte zum anderen.
    Rasch, um gar nicht erst an die Folgen zu denken, trat sie zum Tisch, ergriff die Kugel und schickte sich an, sie zu werfen.
    In diesem Moment kam verspätet der letzte »Liebhaber«, Gdlewski, in den Salon gestürmt. Sein rosiges Gesicht mit dem angedeuteten Schnurrbart strahlte vor Glück und Begeisterung.
    »Es ist da!« schrie er schon in der Tür. »Das dritte Zeichen! Und genau am Freitag! Den dritten Freitag hintereinander! Haben Sie gehört, was er singt?« Gdlewski wies triumphierend zum Fenster, vor dem eben noch der Leierkasten gejault und der alte Mann heiser geheult hatte. »Haben Sie es gehört? ›Aus Not! Aus Not!‹ Immer wieder!«
    Aber

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