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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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und schlecht beschrieben: groß, furchteinflößend, glatt rasiert, grobe |250| Stimme. Mehr habe ich nicht aus ihr herausbekommen – sie ist einfältig, ohne Beobachtungsgabe, zudem sehr kurzsichtig. Jetzt ist klar, daß der Besucher Caliban war; damals hatte ich noch Herrn Blagowolski im Verdacht und wußte nur, daß meine Version nicht stichhaltig war. Wäre ich scharfsinniger gewesen, so könnten der Gymnasiast, der Reporter und wahrscheinlich auch Caliban noch leben.«
    Er machte eine Pause, um die auf ihn einstürmenden Gefühle zu meistern. Einer von uns nutzte die eingetretene Stille und fragte: »Aber was für ein Motiv hatte Caliban, die einen in den Selbstmord zu treiben und die anderen umzubringen, noch dazu auf so grausame Art?«
    Der Stotterer nickte, als erkenne er die Frage als berechtigt an.
    »Sie alle wissen, daß er kein ganz normaler Mensch war.« [Diese Bemerkung fand ich amüsant: Als wären die übrigen »Liebhaber« normale Menschen.] »In seinem Leben gab es Umstände, von denen ich erst jetzt erfahren habe, nach seinem Tod. Caliban oder Saweli Akimowitsch Papuschin (sein richtiger Name) ist als Buchhalter auf einem Schiff der Freiwilligen Flotte zur See gefahren. Auf einer Fahrt von Odessa nach Schanghai geriet das Schiff in einen Taifun. Nur drei von der Besatzung konnten sich retten, sie erreichten in einem Boot eine kleine öde Insel, eigentlich nicht einmal eine Insel, sondern aus dem Meer ragende Felsen. Anderthalb Monate später fand ein britischer Tee-Schoner, der zufällig in diesen Gewässern kreuzte, den einzigen Überlebenden – Papuschin. Er war nicht verdurstet, weil gerade die Regenzeit war. Wie er so lange Zeit ohne Nahrung durchgehalten hatte, erklärte er nicht, aber im Sand wurden die Überreste seiner beiden Kameraden gefunden: völlig abgenagte Skelette. Papuschin sagte, Krabben hätten sich über die Leichen |251| hergemacht. Die Engländer glaubten ihm nicht, hielten ihn bis zur Ankunft im nächsten Hafen unter Arrest und übergaben ihn den Polizeibehörden.« [Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß unser Buchhalter seine Kameraden getötet und vertilgt hat – man braucht sich nur an seine monströsen Gedichte zu erinnern, in denen ständig Felsen, Meereswogen und Skelette vorkommen, die nach ihrem Fleisch suchen.] »Über ein Jahr brachte Papuschin in einer psychiatrischen Klinik zu. Heute habe ich mit seinem Arzt gesprochen, mit Doktor Bashenow. Den Patienten suchten immer wieder Alpträume und Halluzinationen heim, die mit dem Thema Kannibalismus zusammenhingen. Für sich selbst hatte er nur wütenden Abscheu übrig. In der ersten Behandlungswoche verschluckte er einen Löffel und Scherben eines Tellers, was er jedoch überlebte. Weitere Selbstmordversuche unternahm er nicht, denn er war zu dem Schluß gekommen, daß er des Todes nicht würdig sei. Schließlich wurde er mit der Auflage entlassen, sich regelmäßig seinem Arzt vorzustellen. Anfangs kam er, dann blieb er weg. Bei dem letzten Gespräch wirkte er besänftigt und sagte, er habe Menschen gefunden, die ihm behilflich seien, ›sein Problem zu lösen‹.
    Wir alle wissen, daß Caliban der besessenste Verfechter des freiwilligen Todes war. Er wartete voller Ungeduld auf seine Stunde und beneidete die ›Auserwählten‹ brennend um ihren ›Erfolg‹. Jedesmal, wenn die Wahl auf einen anderen fiel, geriet er in Verzweiflung: Der TOD hielt ihn also noch immer für unwürdig, sich zu seinen getöteten und aufgegessenen Kameraden zu gesellen. Dabei hatte er sich doch verändert, sich durch Reue geläutert, diente dem TOD so ergeben, liebte und ersehnte ihn so leidenschaftlich!
    Ich bin sehr spät dem Klub beigetreten und habe jetzt |252| Mühe, zu ergründen, warum Papuschin auf die Idee kam, einige Mitanwärter in den Selbstmord zu treiben. Ophelia wollte er wohl ganz einfach loswerden, damit die spiritistischen Seancen aufhörten – er hatte den Glauben verloren, daß die erzürnten Geister der ›Liebhaber‹ ihn eines Tages rufen würden. Hier, wie auch im Fall Abaddons, bewies Caliban eine überdurchschnittliche Erfindungsgabe, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Übrigens ist bekannt, daß manisch veranlagte Menschen zuweilen äußerst gewitzt sind. Ich werde Sie nicht in die technischen Details einweihen, das gehört jetzt nicht hierher.
    Warum beschloß er, die Löwin der Ekstase zu vernichten? Vielleicht war sie ihm mit ihrer übermäßigen Exaltiertheit auf die Nerven gegangen. Er erlaubte

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