Magierdämmerung 01. Für die Krone - Perplies, B: Magierdämmerung 01 Krone
abzuschütteln. Er wollte nach der Wunde an seinem Hinterkopf fühlen, aber in diesem Moment traf ihn etwas Unsichtbares und wickelte sich um seinen Körper. Ein kurzer Wechsel in die Wahrsicht zeigte ihm, dass es sich um ein unglaublich starkes Fadengewirk handelte, ein glitzerndes Netz von einer Art, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Er vermochte keinen Finger mehr zu rühren.
Eine Gestalt trat hinter einem nahen Schornstein hervor und hob eine Waffe, eine Girandoni-Windbüchse. Ihr Lauf richtete sich direkt auf die Brust des Archivars. »… wohl, Mister Crowley!«, beendete der Franzose seinen im Wohnzimmer angefangenen Satz. Dann drückte er ab, und die Welt sackte weg um den Obersten Archivar und Geheimnisträger des Ordens des Silbernen Kreises.
kapitel 9: zwei unschöne entdeckungen
»Seltsame Erscheinung im Zürichsee. Mehrere Zeugen wollen in den Abendstunden des gestrigen Tages ein nach ihren Aussagen ›fischähnliches Tier von enormen Ausmaßen‹ keinen Steinwurf weit von der Promenade von Richterswil entfernt in den Fluten des Zürichsees bemerkt haben. ›Groß wie ein Wal‹, beschrieb der Gastwirt Konrad Straub das Ungetüm. Offizielle Stellen konnten die Existenz eines solchen Lebewesens bislang nicht bestätigen.«
– Neue Zürcher Zeitung, 20. April 1897
20. April 1897, 10:18 Uhr GMT
Schottland, Glasgow, Argyle Street
Glasgow war gewaltig. Die Ausmaße der Stadt übertrafen alles, was Kendra sich in ihren kühnsten Träumen vorgestellt hatte. Eine Million Menschen, so hatte ihr Großvater gesagt, lebten dort auf engstem Raum zusammen. Damit konnte Glasgow für sich in Anspruch nehmen, nach London die zweitgrößte Stadt des Empires zu sein. Eine Million – Kendra hatte sich zunächst nicht mehr darunter vorstellen können, als dass es ziemlich viel war. Doch nun, da sie sich an der Seite ihres Großvaters mit ihrer Kutsche durch die Menschenmengen drängte, die sich auf der Argyle Street im Zentrum der Stadt tummelten, begann sie einen ziemlich guten Eindruck davon zu gewinnen, wie viel eine Million tatsächlich war.
»Und, wie gefällt es dir in der großen Stadt?«, fragte Giles McKellen. »Wolltest du nicht immer das Dorf verlassen und in die weite Welt ziehen?«
»Ja, irgendwie schon«, sagte Kendra. »Aber jetzt …« Sie blickte an den bis zu sechs Etagen hohen Häusern mit ihren fensterreichen Fassaden, den Säulen, Rundbögen und Balkonen empor, die zu beiden Seiten die Straße säumten und die, mal aus schweren grauen Steinquadern, mal aus braunem Backstein errichtet, gleichzeitig eindrucksvoll und beklemmend massiv wirkten. Dann ließ sie den Blick über die Straße schweifen. Missmutig dreinschauende Männer in dunklen Anzügen und mit Zylindern eilten die Gehwege entlang, schmutzige Kinder boten Zeitungen und Kurzwaren feil oder hockten einfach nur mit trüben Gesichtern in Hauseingängen; schwitzende Burschen zogen Karren mit den unterschiedlichsten Gütern die Straße entlang, und verhärmt wirkende ältere Frauen trugen Körbe voller Wäsche oder Kohl. »Ich habe nicht das Gefühl, dass diese Menschen glücklicher sind als bei uns«, sagte Kendra schließlich.
»Oh, es gibt sicher einige sehr glückliche Menschen hier«, widersprach ihr Großvater. »Glasgow ist eine reiche Stadt. Der Schiffsbau und die Industrie haben riesige Summen in die Börsen so manches Bürgers gespült. Schau dir nur manche der Häuser an! Einige Gebäude gleichen griechischen Tempeln, andere römischen Palästen. Es gibt Bibliotheken, Museen und Theater, bei deren Pracht dir die Augen übergehen würden.« Er verzog das Gesicht. »Und doch hast du recht. Auf der Schattenseite steht die Armut, die einen Großteil der Bevölkerung fest im Griff hat. Hunger, Krankheiten, Verbrechen, Überbevölkerung, all das findest du in Glasgow genauso wie auch in anderen Metropolen – und zumeist viel leichter als das große Glück. Nein, nein …« Ein Kopfschütteln unterstrich seine Worte. »Ich würde das Leben in den Highlands niemals gegen das hier tauschen. Bei uns ist auch nicht alles gut, aber zumindest lebe ich dort als freier Mann und nicht als Sklave irgendeines Fabrikbesitzers.«
Vor ihnen, am Ende der Straße, versperrte eine Wand aus Stein und Glas die Sicht. Kendras Augen wurden größer, als sie die eindrucksvolle Fassade des Zentralbahnhofs von Glasgow erblickte, ein Bauwerk von der Pracht und den Ausmaßen einer Kathedrale. Dutzende von Kutschen standen vor dem Eingang, und
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