Magierdämmerung 02 - Gegen die Zeit
»Dann schauen Sie sich dies hier an.« Er ging um den Kartentisch herum und legte seine Hand auf ein in die Wand eingelassenes Pult, das bis auf ein kompliziertes Muster aus Messingnägeln und Rollen leer zu sein schien. Eine kleine Anordnung orgelpfeifenartiger Rohre ging vom hinteren Ende des Pultes aus und verschwand in der Brückendecke.
»Ich nehme nicht an, dass es sich hierbei um irgendein kurioses süddeutsches Musikinstrument handelt«, sagte Lionida scherzhaft.
»Deutsch ist richtig«, erwiderte von Stein, »aber der Erfinder kam nicht aus Bayern, sondern ist ein jüdischer Magieanwender aus Berlin. Ich selbst kann das Gerät leider nicht bedienen, dazu ist nur unser Bordkaplan Tremore in der Lage. Aber wenn Sie vom Officium kommen, gehören Sie zweifellos zu den Berührten, daher darf ich Sie bitten, in die Wahrsicht zu wechseln.«
Lionida kam der Aufforderung nach. Verblüffung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie des unglaublich komplizierten Fadennetzwerks gewahr wurde, das auf dem Pult zwischen den Nägeln und Rollen verspannt war, nur um in Bündeln in den Messingrohren zu verschwinden. »Was ist das?«, wollte sie wissen.
»Das«, erklärte von Stein, »ist die Bedienungsapparatur unseres Tarnkokons.«
Die Magieragentin hob den Kopf und blickte den deutschen Offizier ungläubig an. »Sie wollen damit doch nicht sagen, dass die Gladius Dei imstande ist, sich unsichtbar zu machen.«
Von Stein schmunzelte und zwirbelte seinen prächtigen Schnurrbart. »Oh doch, Signora. Genau das will ich sagen. Ein Befehl von mir, ein Zug am rechten Faden durch Kaplan Tremore, und dieses ganze Luftschiff verschwindet vom Himmel wie davongehaucht. Die Briten werden überhaupt nicht mitbekommen, was ihnen blüht, wenn wir über sie kommen …«
… wie der Zorn Gottes , vollendete Lionida im Stillen den Satz, und ein Schauer der Erregung durchlief sie.
23. April 1897, 6:51 Uhr GMT
England, London, unweit der St. Paul’s Cathedral
In ihrem Versteck, im Keller des Old Man’s , ballte Jonathan die Hände zu Fäusten, und da er sie nicht auf den Tisch schlagen konnte, ohne seine schlafenden Kameraden zu wecken, presste er sie stattdessen so fest auf die Tischplatte, dass das Holz knackte.
Kendra, die es sich ihm gegenüber auf der Sitzbank bequem gemacht hatte, sah ihn mitfühlend an. »Lassen Sie mich raten«, flüsterte sie. »Sie machen sich Sorgen wegen Mister Holmes und Mister Brown. Sie fragen sich, warum Watson noch nicht zurückgekehrt ist. Sie fürchten, Crandon könnte wiederkommen und uns entdecken. Und überhaupt haben Sie die Warterei satt und würden am liebsten losstürmen, um irgendetwas zu unternehmen.«
Jonathan bedachte sie mit einem schwachen Grinsen. »Das trifft es ungefähr, ja.« Er verzog das Gesicht. »Aber geht es Ihnen nicht genauso? Erst saßen wir im Keller der Unteren Guildhall fest und haben gewartet. Nun sitzen wir im Keller dieses Pubs fest und warten. Derweil treiben Wellington und seine Anhänger ihr unredliches Spiel und hecken wer weiß was für eine Teufelei aus. Dagegen muss doch etwas unternommen werden. Und wenn weder Holmes noch Randolph da sind, um uns zu führen, dann müssen wir unseren Weg eben selbst finden.«
Die junge rothaarige Frau bedachte ihn mit einem langen Blick. »In Ordnung«, sagte sie. »Was schlagen Sie vor?«
Jonathan setzte zu sprechen an, brach jedoch sofort wieder ab und schürzte nachdenklich die Lippen. Ja, was schwebte ihm eigentlich vor? Zwar verspürte er eine kaum zu bändigende Ruhelosigkeit, aber wohin er seine Schritte lenken sollte, wenn er jetzt losrannte, wusste er im Grunde auch nicht. »Ich habe leider keine Ahnung«, murmelte er. Er hob die linke Hand, an der Dunholms Ring steckte. »Irgendwie habe ich die ganze Zeit darauf gehofft, dass mir der Ring sagen würde, was zu tun ist. Er sei der Schlüs…« Er hielt inne und sah sich um. Vertraue niemandem! , hatte der sterbende Erste Lordmagier gesagt. Aber außer ihnen beiden war nur Miss Morland wach, und die Magierin schien vollkommen in Gedanken versunken zu sein, während sie der neben ihr schlafenden Misses Blackwood geistesabwesend über das dunkle Haar strich.
Leise erhob sich Jonathan und gesellte sich zu Kendra auf die Bank. »Er sei der Schlüssel, sagte Dunholm, als er ihn mir übergab«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. »Aber wozu? Das hat er mir leider nicht verraten. Eine Weile dachte ich, der Alte Mann könne die Worte im übertragenen Sinne gemeint
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