Magierdämmerung 02 - Gegen die Zeit
den Schornsteinfeger.«
So schnell wie möglich rutschten und kletterten sie am Rand des Daches entlang und setzten dann auf das nächste über. Hinter ihnen war ein leises Poltern zu vernehmen. Es klang, als habe die Tür unter Crandons Ansturm nachgegeben. Eines musste man dem Schergen Wellingtons lassen: Er war hartnäckig. »Schneller«, drängte Jonathan seinen Freund.
»Kentham!«, schrie eine Stimme hinter ihnen.
Jonathan fuhr herum und hob abwehrbereit die Arme. Doch er war zu langsam. Im nächsten Moment wurde er wie vom Hieb eines Preisboxers an der Brust getroffen und nach hinten geworfen. Er prallte auf das schräge Dach und schlug mit dem Kopf schmerzhaft gegen die schwarzen Schindeln, bevor sein Körper zur Seite kippte und der Dachkante entgegenrollte. Jonathan riss den Arm zur Seite, um einen Vorsprung zu ergreifen, aber seine Finger griffen zu kurz. Instinktiv ließ er Fäden aus ihnen hervorschießen und hielt sich daran fest. Er konnte allerdings nicht verhindern, dass er bis zur Hüfte über den Rand rutschte und seine Beine plötzlich in der Luft baumelten. »Robert!«, schrie er.
Sein Freund wandte sich um und fluchte. »Ich komme.« Er kletterte in Richtung Jonathan zurück.
»Nicht so schnell!«, mischte Crandon sich ein, und als Jonathan den Kopf wandte, sah er, dass der Magier erneut die Hände vorstieß.
»Nein!«, schrie er und drehte sich halb auf den Rücken, nur um mitzuerleben, wie Robert in den Bauch getroffen wurde, sich ächzend zusammenkrümmte und torkelnd einen Schritt zurück machte. Er trat ins Leere und kippte nach hinten.
Die Zeit schien sich ins Unendliche zu dehnen. Mit erschreckender Langsamkeit und Klarheit sah Jonathan, wie sein Freund jeden Halt verlor und mit rudernden Armen und vor Schreck weit aufgerissenen Augen über die Dachkante stürzte.
Beinahe instinktiv kam die Wahrsicht über ihn. Er löste seine rechte Hand von dem Fadenbündel, an dem er sich festhielt, streckte sie in Roberts Richtung und schleuderte dem Freund eine Salve aus gestreuten Einzelfäden entgegen, die ihn an Armen und Oberkörper traf.
Robert schrie auf, als er herumgerissen wurde. Sein Sturz ging in eine weite Pendelbewegung über, die ihn mit Schwung gegen die braune Hauswand unterhalb von Jonathan prallen ließ. Ein schmerzhafter Ruck ging durch Jonathans Arm, und er keuchte auf. Ein kurzer Augenblick des Kontrollverlusts ließ den Faden, an dem er sich festhielt, reißen, und er rutschte, von Roberts Gewicht gezogen, vollends über die Dachkante. Im letzten Moment vermochte er sich an einem Vorsprung festzukrallen, doch ihm war klar, dass er diesen Kraftakt nicht lange durchhalten würde.
Von glitzernden Fäden umzüngelt tauchte die magisch leuchtende Gestalt Crandons über ihm auf. Er sah aus wie ein von einer zornigen Flammenaura umgebener Dämon, was regelrecht absurd wirkte, wenn man sich seine vollkommen durchschnittliche Statur, das gänzlich unscheinbare Angestelltengesicht und den braunen Anzug, den er trug, vor Augen führte. Jonathan ließ erneut die Wahrsicht fallen, denn er wollte seinem Gegner ins Gesicht sehen können.
Blut färbte dessen untere Gesichtshälfte rot und hatte auch sein weißes Hemd und die braune Weste darüber besudelt. Aus der Nähe ließ sich mit erschreckender Deutlichkeit erkennen, dass die Bratpfanne sein Gesicht böse zugerichtet hatte. Aber der Schmerz schien Crandon nur noch wütender zu machen. Als er sich vorbeugte, funkelte Hass in seinen braunen Augen. »Das werden Sie bereuen, Kentham. Eigentlich sollte das hier ein friedlicher Tausch werden. Ihre Freunde Robert und Elisabeth gegen Dunholms Ring. Aber jetzt ist es eine persönliche Angelegenheit. Für das hier …« Er deutete auf sein Gesicht. »… werden Sie bezahlen. Und Ihre Freunde ebenfalls.«
Jonathan brachte nur ein Ächzen zustande, während er spürte, wie seine Finger an Kraft verloren und abzugleiten drohten. Er warf einen raschen Blick über die Schulter. Unter ihm versuchte Robert gerade, sich an einem Fensterrahmen im zweiten Stock festzuklammern.
Crandon ging über ihm in die Hocke. Aus Augen, in denen ein schwacher gelblicher Schein lag, betrachtete er Jonathans linke Hand, an welcher der breite, silberne Siegelring Dunholms steckte. »Da hätten wir also das gute Stück«, stellte er zufrieden fest. »Aber wie ich sehe, ist es magisch geschützt. Diese Fäden werde ich wohl nicht lösen können. Aber das macht nichts. Zum Glück bin ich auf alles vorbereitet.« Er
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