Magierdämmerung 02 - Gegen die Zeit
und den blanken Boden, huschte durch dunkel gähnende Türöffnungen und durchmaß leere Räume.
Die Ordnungshüter Londons hatten Markierungen an mehreren Stellen angebracht, die sie als bedeutsam für das Lösen des Rätsels erachteten, das sich hier mitten im Herzen ihres Wirkungsbereichs unvermittelt aufgetan hatte. Aber sie bezweifelte, dass sie jemals dahinterkommen würden, was an diesem Ort jahrhundertelang geschehen war.
Sie selbst beschäftigte unterdessen vor allem die Frage, was in Gottes Namen in den letzten Tagen hier vorgefallen war. Die Nachricht ihres Spions in den Reihen des Silver Circle hatte Informationen über eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb des Ordens durch die Machtergreifung Lordmagier Wellingtons sowie über dessen Entdeckung der Wahren Quelle der Magie enthalten. Nichts hatte allerdings darauf hingewiesen, dass die Untere Guildhall bei Lionidas Ankunft einfach nicht mehr da sein könnte. Denn es waren nicht nur ihre Bewohner und die Einrichtung verschwunden; vielmehr hatte sich einfach alles irgendwie in Luft aufgelöst: Türen, Säulen, Wandvertäfelungen und Marmorfliesen. Es war gespenstisch.
In den Randbereichen des Ordenshauptquartiers, in Abstellkammern und Lagerräumen entdeckte sie einige Reste von Mobiliar, die allerdings nur noch mehr Fragen aufwarfen. Während manche der Regale und Kisten noch vollständig erhalten waren, wiesen andere unübersehbare Spuren eines Zerfalls auf, der nichts mit Alter oder schlechter Lagerung zu tun hatte. Die Magieragentin hob eine behandschuhte Hand und fuhr mit dem Zeigefinger über die Kante eines Regalbrettes, das zur Hälfte einfach fort war und das an seinen Rändern wie geschmolzen wirkte, eine Eigenschaft, die sie bei Holz so noch nie gesehen hatte. Vorsichtig nahm sie einige Proben und steckte sie in die lederne Tasche, die sie unter ihrem Rock am linken Oberschenkel trug.
Diese Eigentümlichkeit blieb hingegen der einzige Hinweis darauf, dass etwas ganz und gar Unnatürliches den gegenwärtigen Zustand der Unteren Guildhall herbeigeführt hatte. Nachdem sie einige weitere Minuten die kahlen Räumlichkeiten durchstreift hatte, entschied sie, diesem Ort den Rücken zu kehren. »Was immer passiert ist, hier finde ich keine Antworten«, murmelte sie zu sich selbst. »Also bleibt mir nur, die Anhänger Dunholms zu suchen. Vielleicht wissen sie mehr.«
Sie verließ die Untere Guildhall durch den Westeingang, der sich unweit der Kirche St. Mary Aldermanbury befand, und ging einige Schritte die Straße hinunter, um zu überlegen, wie sie nun weiter vorgehen sollte. Sie hatte keinerlei Anhaltspunkte dafür, wo sich die Widerständler gegenwärtig aufhielten. Aber immerhin kannte sie ein paar Namen und eine Handvoll Orte, die von den Magiern des Silver Circle mehr oder minder regelmäßig besucht wurden. Hier würde sie mit ihren Nachforschungen beginnen.
In diesem Moment wurde sie unvermittelt von einer in jeder Hinsicht vollkommen unscheinbar wirkenden Frau angesprochen. Sie musste um die vierzig sein, hatte ein blasses, leicht fülliges Gesicht und trug ein Kleid, das bei aller dezenten Eleganz so schlicht und farblos wirkte, dass es nur eine Frau tragen konnte, die entweder seit Jahren unter der Haube war oder sich damit abgefunden hatte, dass die Männer sich nicht für sie interessierten. »Der Herr ist mein Hirte«, sagte sie, und ein leichter Hoffnungsschimmer glänzte in ihren braunen Augen.
Lionida neigte in einer Geste gelinder Überraschung den Kopf. »Sein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden«, erwiderte sie auf Englisch.
»Amen«, vervollständigte die Frau die vereinbarte Losung, bevor sie näher trat und Lionidas Hand ergriff. »Ich bin so froh, dass Sie da sind. Ich heiße Potts.«
»Mein Name ist Francesca, Francesca Buitoni.« Es war nicht nötig, dass die Frau ihren richtigen Namen kannte, und der junge Fähnrich an Bord der Gladius Dei hatte sicher nichts dagegen, wenn sie sich seinen Namen auslieh.
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Potts.
Lionida deutete ein Nicken an. »Die Freude ist ganz meinerseits. Sie sind also unsere Spionin hier in London.« Es war halb eine Frage, halb eine Feststellung. »Ich hatte in meiner Nachricht doch geschrieben, Sie sollten mich an der Waterloo Bridge treffen.« Die Magieragentin hatte die Botschaft direkt nach ihrem Eintreffen in einem Versteck unweit der St. Pauls Cathedral hinterlegt, auch wenn sie nicht gewusst hatte, ob die
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