Magierdämmerung 03 - In den Abgrund
mit einer so kleinen Mannschaft. Er sah sich also gezwungen, seine Tarnung fallen zu lassen, wenn er zuschlug, und das hieß, dass er entweder alle hier an Bord töten oder fliehen musste. Es gab zwei Beiboote, aber erstens schwebten sie ein Dutzend Schritt über den Wellen, und zweitens waren seine Aussichten zu überleben lachhaft gering, wenn er sich mitten auf dem Atlantik mit einem Beiboot absetzte. Das bedeutete, ihm blieb eigentlich nur der harte zweite Weg. Aber konnte er es in seinem gegenwärtigen Zustand überhaupt mit der ganzen Schiffsbesatzung aufnehmen?
Kentham und McKellen würden zweifellos zögern, ihn zu bekämpfen, da er den Körper und das Bewusstsein ihres Freundes Pennington als Geisel hielt. Für die übrigen galt dies jedoch nicht. Und er wusste, dass sich neben dem Holländer noch irgendein asiatischer Kampfmagier an Bord befand. Außerdem war ihm heute Morgen bei seinem Streifzug durch den Bauch des Schiffes ein schweigsamer Afrikaner begegnet, der zwar den Eindruck erweckt hatte, geistig etwas zurückgeblieben zu sein, aber dafür ein Berg von einem Mann gewesen war. Darüber hinaus konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass sich irgendwo noch mehr Menschen verbargen, aber er vermochte nicht zu sagen, wo.
Eine weitere Möglichkeit bestand natürlich darin, zu warten, bis das Schiff die Wahre Quelle erreichte und Jonathan in dem Versuch, das gebrochene Siegel zu reparieren, an Land ging. Dort würde der Franzose den unbestreitbaren Vorteil haben, auf die Hilfe Wellingtons und seiner Anhänger zählen zu können. Andererseits gefiel ihm der Gedanke gar nicht, Kentham so nah an dessen Ziel heranzulassen. Schon zweimal war das Schicksal dem Franzosen in die Quere gekommen – einmal in Form einer Naturgewalt, einmal in Gestalt eines selbstlosen Idealisten – , daher wollte er lieber kein unnötiges Wagnis eingehen, indem er erst im allerletzten Moment zuschlug.
Also, was mache ich? , fragte er sich, während er ruhelos in der Kabine hin und her schritt. Welchen Weg soll ich einschlagen?
An seiner Tür klopfte es. »Mister Pennington?« Die Stimme draußen auf dem Gang gehörte Kendra McKellen. »Ich habe etwas zu essen für Sie.« Ohne auf seine Antwort zu warten, drückte sie die Türklinke hinunter, nur um festzustellen, dass die Tür verschlossen war.
Mit einer schnellen Bewegung zog der Franzose die getönte Brille von den Augen und ließ sie in seine Westentasche gleiten. Er trat zur Tür, entriegelte sie und öffnete sie einen Spalt breit. »Miss McKellen«, begrüßte er sie und versuchte dabei so leidend zu klingen wie Pennington in den letzten Tagen.
»Hallo, Mister Pennington. Ich bringe Ihnen wieder etwas vom heutigen Mittagessen.« Sie hob ein kleines Holztablett mit verschiedenen Speisen hoch. »Darf ich reinkommen?«
»Natürlich.« Der Franzose trat zurück.
Sie ging an ihm vorbei und stellte das Tablett auf den Tisch. »Warum haben Sie Ihre Tür abgesperrt?«, wollte sie wissen.
»Zur Sicherheit«, erwiderte der Franzose. »Sie wissen ja, dass ich diesem Holländer und seiner verborgenen Besatzung nicht ganz über den Weg traue.« Das war nicht einmal gelogen, auch wenn er in Wirklichkeit vor allem hatte verhindern wollen, dass ihn jemand mit der auffälligen Brille auf der Nase überraschte.
»Dafür gibt es wirklich keinen Grund. Meister Fu ist vollkommen harmlos, und auch der Holländer ist kein so übler Mann, nur ziemlich … « Sie schien nach dem richtigen Wort zu suchen. »… melancholisch.«
»Wenn Sie es sagen.« Es juckte ihn in den Fingern, sie umzubringen, hier und jetzt. So arglos war sie ihm noch nie begegnet. Ein schneller Schritt, ein Zupacken, ein ruckartiges Herumreißen des hübschen Kopfes – und ihr Genick würde brechen. Und dann musst du gegen alle anderen antreten. Willst du das? Ist das klug? Diese Unschlüssigkeit, an der er sonst nur selten litt, frustrierte ihn. Er kniff die Augen zusammen und täuschte einen Anfall von Kopfschmerz vor.
»Wie geht es Ihnen heute?«, fragte McKellens Enkelin mitfühlend.
»Schon etwas besser. Ich … « Er stockte, als er unvermittelt ein Aufbegehren von Penningtons Bewusstsein in seinem Inneren verspürte. Oh nein. Nicht jetzt. Mit einem Knurren ballte er die Hände zu Fäusten, und sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse.
Sofort war die junge Frau bei ihm und stützte ihn. »Das sieht für mich aber nicht so aus, als ginge es Ihnen besser.«
Lauf weg, Kendra! »Nein. Nur ein kleiner
Weitere Kostenlose Bücher