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Magierdämmerung 03 - In den Abgrund

Magierdämmerung 03 - In den Abgrund

Titel: Magierdämmerung 03 - In den Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Perplies
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südwestlich von England
    Kurz vor Mitternacht lag Kendra in ihrer Koje und kämpfte darum, endlich Schlaf zu finden. Im Grunde hätte ihr das nicht schwerfallen dürfen. Der Tag war lang gewesen, und in der letzten Nacht hatte sie auch schon kaum geschlafen. Trotzdem gelang es ihr einfach nicht, zur Ruhe zu kommen. Ihr Körper war zwar erschöpft, aber in ihrem Geist drehten sich die Gedanken im Kreis, während ihr Verstand versuchte, all das Erlebte der letzten vierundzwanzig Stunden zu verarbeiten.
    Großvater … Warum hast du dich nur opfern müssen? Natürlich kannte sie dank Jonathan die Antwort auf diese Frage. Das magische Unwetter war schuld, das den Zug getroffen hatte, mit dem Giles und sie von Carlisle aus nach London unterwegs gewesen waren. Die gewaltige magische Entladung, die auf dem Höhepunkt des elementaren Tobens in die Lok eingeschlagen war, hatte nicht nur den Zug zum Entgleisen gebracht und dem verzweifelten Kampf gegen den Franzosen und seine Häscher ein Ende bereitet, sondern auch das machtvolle Amulett, das ihr Großvater als Wächter der Quelle behütet hatte, mit seiner Brust verschmolzen. Kendra verfluchte im Stillen das Schicksal, das Doktor Westinghouse von ihnen getrennt hatte, kurz bevor ihr Großvater im Keller des Old Man’s aufgewacht war. Möglicherweise hätte der Arzt des Ordens des Silbernen Kreises ihm noch helfen können.
    Aber du musstest deinen Zustand ja unbedingt geheim halten, sodass niemand auf den Gedanken kam, nach Westinghouse zu schicken. Und du selbst konntest nicht ahnen, dass nur wenige Meilen südlich ein Mann in seinem Versteck saß, der die Verschmelzung womöglich hätte rückgängig machen können. Kendra seufzte stumm. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, hätte es vermutlich auch keinen Unterschied gemacht.
    Giles hatte Zeit seines Lebens Geheimnisse mit sich herumgetragen. Jahrelang hatte er Kendra nichts von seinen magischen Fähigkeiten erzählt, ganz zu schweigen von seiner Mitgliedschaft in dem verschworenen Kreis der Quellwächter. Diese Verschwiegenheit und selbsterwählte Einsamkeit zum Wohle aller Menschen war ihm dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass er wahrscheinlich nicht mal um Hilfe gebeten hätte, wenn ihm klar gewesen wäre, dass welche existierte. Denn es hätte bedeutet, Wildfremden vertrauen zu müssen. Und der Mord an seinem alten Freund Dunholm sowie die gewalttätige Spaltung des Ordens des Silbernen Kreises hatten sein Misstrauen anderen Magieanwendern gegenüber zweifellos nur noch befördert. Daher hatte er entschieden, die Bürde alleine zu tragen und niemanden in das einzuweihen, was er zu tun gedachte – nicht einmal seine eigene Enkelin.
    Hattest du Angst, ich könnte etwas Törichtes tun, in der Hoffnung, dich zu retten? , fragte sich Kendra. Womöglich war das der Fall gewesen. Tatsächlich musste sie sich eingestehen, dass seine Angst vielleicht sogar berechtigt gewesen wäre. Giles McKellen war ihr Großvater gewesen, der letzte noch lebende Verwandte. Und auch wenn sie jahrelang keinen sonderlich vertrauten Umgang gepflegt hatten, war in den wenigen Tagen ihrer gemeinsamen Reise von Schottland nach London ein Band zwischen ihnen entstanden, dessen plötzliches Reißen Kendra stärker schmerzte, als sie es für möglich gehalten hätte. Ihrer Heimat A’Charnaich – den Wäldern, den Hügeln, dem einsamen Waldsee – hatte sie den Rücken kehren können, ohne viele Tränen zu vergießen. Doch dieser Verlust … Sie hielt inne und wischte sich mit dem Ärmel über die feuchten Wangen. Warum hast du mich nur verlassen müssen? Wen habe ich denn noch in der Welt, jetzt, da du gegangen bist? Ich bin allein …
    Schniefend rollte sie sich in der Koje herum, schlug die Wolldecke zur Seite, in die sie sich bislang gekuschelt hatte, und stand auf. Mit zwei Schritten durchquerte sie die Kabine bis zu dem Tisch mit dem Stuhl. Über der Stuhllehne hingen ihre Jacke und ihr Kapuzencape, und auf der Tischplatte lag die Tasche mit den wenigen Habseligkeiten, die sie aus ihrem alten Leben mitgenommen hatte. Es grenzte an ein Wunder, dass sie die Tasche in den Wirrnissen der vergangenen Tage nicht verloren hatte, ein Wunder, für das Kendra sehr dankbar war.
    Fröstelnd zog sie ihre Jacke um die Schultern. Es war kalt im fliegenden Schiff des Holländers, und die Öllaterne, die neben der Tür an der Wand hing, spendete zwar ausreichend Licht, aber keine nennenswerte Wärme. Nachdem Kendra auch noch in ihre Schuhe

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