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Magierdämmerung 03 - In den Abgrund

Magierdämmerung 03 - In den Abgrund

Titel: Magierdämmerung 03 - In den Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Perplies
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geschlüpft war, zog sie die Umhängetasche zu sich und öffnete sie. Behutsam holte sie ihr spärliches, aber für sie umso wertvolleres Hab und Gut hervor: das magische Horn, mit dem sie den Holländer gerufen hatte, das Büchlein ihres Großvaters, die Puppe aus Kindertagen, die sie aus ihrem Zimmer im Haus von Onkel Callum in A’Charnaich mitgenommen hatte, um sie vor dem Zorn des alten Säufers zu bewahren, das Zauberbuch aus der Feder ihrer Mutter, die kleine, dunkelgrüne Flasche mit Laudanum und schließlich ihre Ritualutensilien.
    Kendra merkte, wie eine gewisse Wehmut sie überkam, als sie auf die runenverzierten Kerzen, die flache Messingschale für das Räucherwerk, den Kelch, den Quarzkristall und die Holzscheibe mit dem eingeritzten Pentakel blickte. War es wirklich erst eine Woche her, seit sie sich gegen Mitternacht voll freudiger Erwartung aus dem Haus ihres Vormunds geschlichen hatte, um sich oben am See im Wald der Magie hinzugeben? Was für ein wundervolles Gefühl es gewesen war, das Prickeln der magischen Energien auf dem ganzen Körper zu spüren, das Kitzeln tastender Fäden auf ihren nackten Beinen, und gleichzeitig das Rauschen des Fadenwerks in der kühlen nächtlichen Brise wahrzunehmen. Sie hatte sich im Einklang mit sich selbst und der sie umgebenden Welt befunden, sich als Teil eines Ganzen erlebt. »Ich war eins mit der Magie … «, flüsterte sie leise, während sie den Quarzkristall hochhob und in das zauberische Glitzern hineinschaute, das durch das Licht der Öllaterne auf seiner vielfach facettierten Oberfläche hervorgerufen wurde.
    Seitdem hatte sich so viel verändert. Ihr Großvater hatte ihr die Augen geöffnet – und dies in mehr als nur einer Hinsicht. Er hatte ihr gezeigt, wie wenig sie wirklich über das Phänomen der Magie wusste, wie unbeholfen ihre Bemühungen gewesen waren, das Fadenwerk zu manipulieren. Sie war wie ein Kind gewesen, das in naiver Freude auf etwas Wunderbares schaut, ohne es wirklich zu begreifen.
    Doch das Erwachsenwerden hatte einen furchtbaren Preis von ihr verlangt. Sie hatte erkennen müssen, dass die Magie nicht nur bezaubernd, sondern auch grausam war, eine Gewalt, die, aus dem Chaos entspringend, mitleidlos Leben veränderte und zerstörte. Sie war Männern begegnet, für die Wunder wie die Wahrsicht und das Fadenwerk nur Werkzeuge waren, Mittel zum Zweck, um ihre meist selbstsüchtigen Ziele zu erreichen. Sie selbst – so musste sie zu ihrer Schande eingestehen – hatte in den letzten paar Tagen vor allem danach gestrebt, ihre Fertigkeit in gewissen Techniken wie dem Schleudern druckvoller Fadenbündel oder dem Ausbilden neugieriger Spürfaden zu schulen. Und schließlich hatte sie miterleben müssen, wie sich ihr Großvater der Magie opferte, um genau dieser Grausamkeit und Selbstsucht Einhalt zu gebieten.
    Dieser Augenblick war vielleicht das Schlimmste gewesen; nicht nur deshalb, weil sie Giles verloren hatte, sondern weil sie in den nächtlichen Stunden in der Kutschkabine, die auf ihre fluchtartige Abreise von Stonehenge folgten, die Magie plötzlich gehasst und sich nichts mehr gewünscht hatte, als dass sie völlig von der Erde verschwinden möge.
    »Das ist alles falsch«, murmelte sie leise und an niemand Bestimmtes gerichtet. »So sollte es nicht sein.« Ihre Hand ballte sich so fest um den Quarzkristall, dass sich seine harten Kanten in ihr Fleisch gruben. Trotzdem drückte sie noch fester zu. Brennender Schmerz durchfuhr ihre Handfläche, und sie hieß ihn willkommen, kostete ihn aus, ließ die körperliche Pein zum Ausdruck ihres inneren Schmerzes werden. Als sie sah, dass rote Tropfen auf die Tischplatte fielen, ließ sie den Stein endlich los. Mit leisem Pochen landete er zwischen die Kerzen, den Kelch und die Messingschale. Seine Oberfläche war blutverschmiert.
    Eine unbestimmte Zeit lang starrte sie auf die Trümmer ihres früheren Lebens, jedes einzelne ein Zeugnis all dessen, was sie verloren hatte: ihre Eltern, ihren Großvater, ihre Heimat, ihre Liebe zur Magie. Irgendwann allerdings tauchte ihr Verstand doch aus den düsteren Tiefen ihres Selbstmitleids auf und erinnerte sie daran, dass sich Schnittwunden hässlich entzünden können, wenn man sie nicht ordentlich behandelt. Kendra erhob sich und ging zu der kleinen Waschschüssel hinüber, die auf der anderen Seite ihrer Kabine auf einer schmalen Kommode stand. Vorsichtig wusch sie die selbst zugefügten Wunden aus und umwickelte sie dann mit einem Taschentuch.

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