Magische Insel
Mensch verhungern?«
»Ich weiß es nicht.« Verdammt, wenn ich ihm in einem einzigen Punkt recht gäbe, obwohl ich nicht wusste, welchen Punkt ich zugeben sollte!
»Aha … willst du behaupten, dass es langweilig ist, wenn niemand verhungert? Dass es langweilig ist, wenn die Menschen glücklich und gut genährt sind? Würdest du lieber in Hamor leben, wo das Fehlen von Ordnung zu Rebellionen, Unterdrückung und Hungersnot führt? Ziehst du den Tod der Langeweile vor?«
»Selbstverständlich nicht.« Meine Stimme war lauter, als ich beabsichtigt hatte. »Aber Ihr behauptet, dass Langeweile nötig ist, um Tod oder andere Gräuel zu vermeiden. Und dem stimme ich nicht zu.«
»Das habe ich nie gesagt, sondern du, Lerris.«
Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Tamra fuhr mich an: »Lerris, versuch wenigstens ein einziges Mal nachzudenken.«
Krystal kicherte.
Ich warf ihr einen wütenden Blick zu, der sie jedoch kalt ließ. Wrynn schüttelte den Kopf und streckte ihre wohlgeformten Beine aus.
Keiner sagte etwas.
Schließlich stieß Magister Cassius einen Seufzer aus – einen richtigen tiefen Seufzer.
»Na schön«, meldete ich mich. »Würde jemand dem blöden Lerris die Sache erklären.«
»Du bist nicht blöde«, widersprach Tamra. »Du weigerst dich nur zu sehen.«
»Was soll ich sehen?«
»Lerris, Ordnung ist notwendig, um Böses wie Hungersnöte und Mord zu verhindern«, erklärte Cassius. »Würdest du mir zumindest in diesem Punkt zustimmen?«
Ich nickte. »Ja.«
»Du hast gesagt, übertriebene Ordnung langweile dich.«
Wieder musste ich nicken.
»Siehst du den Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Punkt?«
Offenbar machte ich ein verständnisloses Gesicht. Alle schüttelten den Kopf.
Cassius holte tief Luft. »Ehrliche Ordnung verhindert das Böse. Das ist eine Wahrheit im Leben und auch in der Magie. Auf dieser … auf unserer Erde kommt diese Wahrheit einer Tatsache nahe.« Er machte eine Pause.
»Na gut«, gab ich zu, obwohl ich mich immer noch wunderte, warum er auf einem Unterschied zwischen Wahrheit und Tatsache bestand.
»Du nennst übertriebene Ordnung langweilig. Das ist ein persönliches Werturteil. Wenn du diese Langeweile auf Ordnung anwendest, behauptest du damit, dass Langeweile nötig ist, um das Böse zu vermeiden. Langeweile ist kein Bestandteil der Ordnung, sondern nur deine Reaktion darauf. Langeweile ist nicht nötig, um Hungersnöte zu verhindern, Ordnung dagegen schon. Du findest nur diese Ordnung langweilig.«
Magister Cassius verdrehte die Worte. Zuviel Ordnung war immer noch langweilig.
»Ihr alle habt ein Problem, das Lerris’ Problem ähnlich ist«, fuhr der schwarze Mann in schwarzer Kleidung fort. »Tamra, für dich ist Ordnung ein Werkzeug der Männer. Du lehnst unsere Lebensweise deshalb total ab, weil Ordnung besagt, dass es stichhaltige Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Du hast das Gefühl, dass Frauen alles tun können, was Männer tun, vielleicht sogar mehr.«
»Können wir auch«, sagte der Rotschopf so leise, dass es offenbar niemand gehört hatte, nur ich, obgleich sie am anderen Ende des Raums saß. Mein Gehör schien schärfer zu werden, vielleicht passte ich aber nur besser auf. Tamra kochte vor Wut, zeigte sie aber nicht.
Ich ließ mich wieder auf dem braunen Lederkissen nieder.
Der Magister lächelte und richtete die Augen auf sein nächstes Opfer. »Wrynn, du glaubst, dass Stärke die Antwort auf alle Probleme ist und dass jeder stark sein kann, wenn er sich nur bemüht. Deiner Philosophie nach sollten Kranke und Säuglinge stark werden oder sterben.«
»Das stimmt nicht.« Wrynn setzte sich auf. Ihre braungefleckten grünen Augen waren eiskalt.
»Dann erklär es uns.« Magister Cassius lächelte. »Du kannst aufstehen oder umhergehen.«
Meine Augen ruhten auf Tamra. Sie war anmutig wie eine Tänzerin, doch im Innern aus Stahl, gegen das selbst die schärfste Klinge nichts ausrichten würde. Ihr flammendrotes Haar umrahmte ein Gesicht mit Sommersprossen, das beinahe freundlich aussah – wenn sie nicht sprach. Sie fing meinen Blick auf. Ich hatte das Gefühl, plötzlich unter einer eiskalten Dusche zu stehen. Schnell schaute ich zu Wrynn.
»Jeder hat die Verpflichtung, so stark wie möglich zu werden. Es ist nicht richtig, dass die Starken sich um diejenigen kümmern müssen, die sich weigern, stark zu sein.« Wrynn war nicht aufgestanden. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt. Jetzt blickte sie auf
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