Magische Insel
Recluces Basis ist, diese Ordnung zu erhalten. Manche Menschen sind Ordnungsquellen, andere schaffen Chaos – und manche können beides sein.
Die meisten Menschen, die für die Gefahrenbrigade ausgewählt werden, sind entweder unkontrollierte Ordnungsquellen oder könnten entweder Ordnung oder Chaos schaffen, ohne es zu wissen. Der erste Schritt in der Brigade führt zu der Erkenntnis, dass ihr alle die Fähigkeit habt, entweder dem Chaos zu erlauben, in Recluce Fuß zu fassen, oder zu helfen, das Chaos von Recluce fernzuhalten. Ihr müsst euch für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden, und die Bruderschaft lässt nicht zu, dass ihr diese Entscheidung fällt, ohne dass ihr beobachtet werdet, es sei denn, ihr befindet euch außerhalb von Recluce.
Da Recluce kein Polizeistaat ist, ist es am günstigsten, wenn ihr euch den Rest der Welt anseht – oder zumindest einen Teil davon –, während ihr lernt und euch entscheidet.«
Polizeistaat? Ein seltsamer Ausdruck. Nur in Hamor gab es Polizei. Einen Moment lang herrschte Schweigen im Raum.
»Aha … Ihr jagt uns nach Hamor oder Candar, damit wir morden, und für die Schafe, die hier bleiben, bleibt alles bestens.« Wrynns Stimme klang gepresst.
»Nein, wirklich nicht. Der jetzige Kaiser Hamors ist der Enkel eines Gefahrenbrigadiers, dem die südlichen Gebiete gefielen und der erfolgreich die Provinz Merowey übernahm. Der oberste Meuchelmörder einer größeren Macht kam aus Sigil, nicht von hier.« Cassius schüttelte den Kopf. »Glaubt mir, der Rest der Welt wird viele Talente belohnen. Ihr seid in größter Gefahr, wenn ihr an Ordnung glaubt und die Bruderschaft ablehnt.« Jetzt blickte er mich scharf an. »Und zwar deshalb, weil ihr eine wandelnde Quelle der Ordnung in den Reichen des Chaos und eine Bedrohung für die Chaos-Meister sein werdet.«
»Wollt Ihr damit sagen, weil wir Talent haben, müssen wir Recluce verlassen, bis wir dieses Talent beherrschen?« fragte Sammel.
»Nicht bis ihr es beherrscht! Das kann Jahre dauern. Nur bis ihr euch im Innern entschieden habt, welchen Weg ihr einschlagen wollt.«
Beinahe hätte ich mir auf die Zunge gebissen. Das war noch schlimmer, als ich gedacht hatte. Wenn ich die halsstarrige Ordnung und alle Regeln der Bruderschaft nicht billigte, würde man mich den Wölfen zum Fraß vorwerfen. Irgendwie sah ich mich nicht gerade als ein Chaos-Meister. Warum konnte eine ethische Person nicht sowohl Ordnung als auch Chaos benutzen? Das Leben bestand doch aus beidem.
»Was ist …?«
Die Fragen gingen weiter, aber ich schenkte ihnen nicht mehr viel Aufmerksamkeit. Alle wollten dieselben Dinge wissen und drückten es nur mit unterschiedlichen Worten aus. Ich war also eine unkontrollierte Ordnungsquelle? Oder Schlimmeres? Und immer noch erklärte mir niemand, was das bedeutete, nur dass es für Recluce gefährlich sei.
Mein Magen knurrte, aber keiner hörte es, weil alle mit Cassius redeten.
Krystal und ich saßen auf einer stillen Insel. Sie blickte zu Boden, und ich blickte auf alles und sah nichts.
X
D ie Sonne hing wie eine goldene Scheibe über der schwarzen Steinmauer, welche die Enklave der Bruderschaft vom Hafen trennte, über dieser Mauer, die von der Seite der Bruderschaft aus so niedrig und unten vom Marktplatz aus so beeindruckend aussah.
Obwohl es nur wenige Tage nach dem Mittsommer war, wirkte das Gras grün und saftig, die Luft roch frisch, und die Nächte waren kühl – laut Sammel eine Folge der Ostströmungen.
Ich hatte darüber nie nachgedacht, bis Magistra Trehonna uns mit ihren Landkarten und Vorträgen über Geographie darlegte, wie Berge und Strömungen das Wetter beeinflussten. Sie hatte uns erklärt, wie die Geographie die Lage von Städten bestimmte und warum Orte wie Fenard, die Hauptstadt von Gallos, am Fuß von Hügeln lagen, die zu den Westhörnern führten, weil die hohe Lage die Verteidigung der Stadt erleichterte und die beiden Flüsschen Energie für die Mühlen lieferten. Am meisten fesselte mich ihre Ausführung, dass die Auferlegung von Ordnung und Chaos an – wie sie es nannte – kritischen Knotenpunkten ganze Wettermuster verändern konnte.
Das erklärte zum Teil, warum einige Schiffe der Bruderschaft bestimmte Abschnitte der Gewässer im Norden patrouillierten. Aber Magistra Trehonnas Unterricht war wie alles andere: ein Häppchen Wissen hier, eins dort und dazwischen eine Menge langweiliger Wiederholungen.
Ich saß mit dem Rücken gegen eine kleine Roteiche
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