Magische Insel
Tamra den Kopf schüttelte.
Cassius hätte beinahe geseufzt – aber nur beinahe. Bis jetzt wäre das die gefühlsbetonteste Äußerung eines Mitglieds der Bruderschaft gewesen. Dann fuhr er fort: »Wir sprachen über Ordnung, ein Thema, mit dem ihr seit eurer Geburt Schwierigkeiten habt. Leider aus verschiedenen Gründen: Bei Lerris ist es Langeweile, bei Tamra die Gleichsetzung von Ordnung mit männlicher Dominanz, bei Sammel das Mitleid mit allen, die unfähig sind, Ordnung anzuerkennen, bei Krystal die Weigerung, sich zu konzentrieren, und bei Wrynn die Verachtung von Schwäche. Keiner von euch kann Ordnung als Grundlage der Gesellschaft anerkennen.«
Ich grinste. Mir war es gleichgültig, mit den anderen getadelt zu werden, aber ich wunderte mich, warum er Myrten nicht erwähnt hatte. Seine sanften Vorwürfe brachten Leben in die Gruppe.
Cassius richtete seinen kurzen schwarzen Stock direkt auf mich. »Lerris, du findest Ordnung langweilig. Sag uns, warum. Steh auf! Du kannst umhergehen und dir soviel Zeit nehmen, wie du willst.«
Ich erhob mich von dem braunen Lederkissen. Ich war mir bewusst, dass auch Tamra mich beobachtete. Ich beachtete sie nicht, jedenfalls versuchte ich es. Ich hasste es, wie ein Käfer unter der Lupe studiert zu werden.
»Ordnung ist langweilig. Alles ist gleich. In Recluce stehen die Leute jeden Tag auf und tun die gleichen Dinge. Sie tun diese so vollkommen wie möglich und so lange wie möglich. Dann sterben sie. Für mich gibt es nichts Langweiligeres und Sinnloseres.«
Wrynn nickte. Myrten auch. Aber Tamras eisblaue Augen waren verschleiert. Krystal unterdrückte ihr übliches Kichern, drehte ihr langes schwarzes Haar um einen Finger und strich mit der Spitze wie mit einem Pinsel über die gekreuzten Beine.
Mir fiel nicht mehr ein. Schließlich war doch alles vollkommen klar, was ich gesagt hatte. Ich stand stumm da. Niemand erwiderte etwas.
»Lerris, nehmen wir einmal an – nur als Diskussionsgrundlage –, es gäbe irgendwo in diesem Universum ein Königreich …«
»Universum?«
»Entschuldigung. Stell dir einfach eine andere Welt vor. Eine Welt, wo die Menschen so viele Kinder bekommen, wie sie wollen. Ohne Ordnung, ohne Regeln. Eine Welt, wo alle Generationen aus unerfindlichen Gründen immer irgendeinen Krieg führen. Die jungen Männer tragen Rüstungen und Waffen, und ein Fünftel von ihnen stirbt. Manche Königreiche gewinnen, manche verlieren. Aber als einzig wirkliches Ergebnis dieser Kriege werden die Waffen immer schrecklicher und wirkungsvoller.
Es werden mehr Kinder geboren. Mehr hungern, und mehr von denen, welche erwachsen werden, sterben in den Kriegen.« Cassius machte eine Pause und blickte uns an. »Denkt alle über diese imaginäre Welt nach – nicht nur Lerris.«
Ich dachte nicht lange nach. Na und? Menschen starben im Krieg. Menschen starben immer.
»Lerris, hast du gewusst, dass voriges Jahr im Süden Hamors fünftausend Menschen gestorben sind?«
Ich schüttelte den Kopf. Was hatten fünftausend Tote in Hamor mit einer imaginären Welt zu tun? Was hatte die imaginäre Welt mit Langeweile zu tun? Oder mit Ordnung?
»Weißt du, wie sie gestorben sind?« fragte Cassius.
»Nein.« Woher sollte ich das wissen?
»Sie sind verhungert. Sie sind gestorben, weil es nichts zu essen gab.«
Wrynn hatte sich gegen die Täfelung aus schwarzer Eiche gelehnt, die den unteren Teil der Wände bedeckte, und schürzte die Lippen.
Ohne zu essen starb man, logisch. Ich nickte.
»Weißt du, warum es nichts zu essen gab?«
»Nein.«
»Weiß es einer der anderen?«
»Kam es deshalb zur Rebellion?« fragte Tamra. Sie schien sich zu amüsieren, als wüsste sie, worauf Cassius hinauswollte.
Ich fragte mich, wieso sie von einer Rebellion im Süden Hamors etwas wusste. Und wen ging das etwas an?
»Im Westen Hamors gab es Nahrung«, erklärte Cassius langsam. »Genug Getreide, dass die Preise niedriger als in den Vorjahren waren.«
Myrten blickte ihn verdutzt an.
»Ja, Myrten?« fragte Cassius den Kerl mit dem Frettchengesicht und dem verfilzten Haar, das dem Fell eines Büffels glich.
»Hätten sie nicht Getreide schmuggeln können?«
»Das Kaiserliche Heer hatte die Straßen gesperrt. Dennoch wurde tatsächlich ziemlich viel Getreide geschmuggelt, doch nicht genug, um den Verlust aufzuwiegen, der entstanden war, als die Soldaten des Kaisers die Felder verbrannt hatten.«
Es herrschte einen Augenblick lang Schweigen.
»Lerris, musste in Recluce jemals ein
Weitere Kostenlose Bücher