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Magma

Magma

Titel: Magma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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unlackiert und die Lippen eine Spur zu trocken, konnte man nur ahnen, was für ein Potenzial an Weiblichkeit in ihr steckte. Wenn sie sich nur einmal die Mühe machen würde, sich zurechtzumachen, für ihn – für einen Abend.
    »Warum ich? Warum heute?«, nahm er den Faden wieder auf. »Warum nicht morgen, wenn ich sowieso hier oben bin.«
    »Du musst es mit eigenen Augen sehen«, erwiderte Helène. »Der Moment, auf den wir so lange gewartet haben, ist endlich gekommen.«
    Weizmann wollte noch etwas sagen, aber in diesem Moment öffneten sich die Türen der Dekontaminierungskammer. Mit zusammengepressten Lippen trat er ein. Er senkte den Kopf und wartete, bis sich die Pforte hinter ihnen wieder geschlossen hatte. Ein rotes Licht kündigte den Beginn der Reinigung an. Ein feiner Schleier ionisierter Partikel rieselte auf ihn herab, hüllte ihn ein und legte sich auf Kleidung, Haut und Haar. Einen kurzen Augenblick später setzte das Heulen der Absaugvorrichtung ein, die die Partikel wieder hinausbeförderte. Und mit ihnen sämtliche Verunreinigungen, an die sie sich geklammert hatten – hauptsächlich Hautschuppen, Bakterien und Staub. Weizmann spürte, wie sich die feinen Haare auf seinen Handrücken durch die elektrische Ladung aufrichteten. Kaum eine halbe Minute später kündete ein grünes Licht vom Ende der Reinigung. Einen Hustenreiz unterdrückend, beeilte er sich, die Kammer durch die sich öffnende Schiebetür auf der gegenüberliegenden Seite wieder zu verlassen.
    Vor ihm lag ein kreisrunder, etwa dreißig Meter messender Raum, in dessen Mitte ein gewaltiger gläserner Zylinder stand, groß genug, um mehreren Wissenschaftlern gleichzeitig Platz zu bieten. In seinem Innern ruhte das Herz des Berges, Lew Kowarskis Vermächtnis, ein Objekt von drei Metern Durchmesser, das von horizontalen und vertikalen Magnetfeldern in der Schwebe gehalten wurde. Seine pockennarbige Oberfläche konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um einen künstlichen Gegenstand handelte. Die Proportionen waren viel zu perfekt, um natürlichen Ursprungs zu sein. Elias Weizmann spürte ein Stechen im Kopf. Sei es, dass ihm die ionisierte Luft nicht bekam, sei es, dass er empfindlich auf die starken Magnetfelder reagierte, immer wenn er hier unten war, bekam er Kopfschmerzen. Mit spitzen Fingern rieb er sich über die Schläfe, während er argwöhnisch das Objekt betrachtete. Wie so oft in letzter Zeit befiel ihn wieder diese Vorahnung, dass etwas Böses unter der Schale aus grauem Metall schlummerte. Etwas, das nur darauf wartete, freigelassen zu werden. Irrational, gewiss, aber auch nicht gänzlich unbegründet.
    In diesem Augenblick kam Helène aus der Dekontaminationskammer. Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck deutete sie auf das Objekt. Widerwillig trat Weizmann näher und blickte über den Rand seiner Brille. Weitsichtig wie er war, konnte er entferntere Objekte besser ohne Brille sehen. Augenblicklich bemerkte er die Veränderungen. Entlang feiner Nähte, die seinen schwachen Augen bisher verborgen geblieben waren, hatten sich Teile der Außenkruste angehoben. Haarrisse waren entstanden, die an einigen Stellen zu einer Breite von einem halben Zentimeter anschwollen und so einen Blick ins Innere ermöglichten. Er hielt den Atem an. Es war tatsächlich geschehen. Seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. Mit einem unsicheren Gefühl in den Beinen trat er näher. Helène begleitete ihn. Sie wirkte erstaunlich gefasst, angesichts der Ungeheuerlichkeit, der sie sich hier gegenübersahen. Als sie nur noch gut drei Meter entfernt waren, blieb der Professor stehen.
    »Wann hat sie sich geöffnet?«, murmelte er.
    »Heute Nacht um zwei Uhr dreißig.«
    »Was ist geschehen?«
    Weizmann bemerkte, dass Helène zögerte. Als sie anfing zu sprechen, tat sie dies mit seltsam gepresster Stimme. »Schmitt hielt sich zu dieser Zeit in der Kammer auf«, sagte sie. »Fu Yang und Henderson waren mit den gravimetrischen Kontrollen befasst. Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, die enormen Schwankungen im Schwerefeld aufzuzeichnen, um sagen zu können, wie es zu dem Unglück kam. Es ging alles so schnell. Ein enormer Anstieg der Temperatur, ein heller Blitz und dann …« Sie verstummte.
    Weizmann fuhr herum. »Was ist geschehen? Wo ist Schmitt?«
    »Verschwunden«, sagte Helène. »Aufgelöst,
verdampft
. Alles, was von ihm übrig geblieben ist, sind Reste seiner Kleidung sowie sein Forschungswerkzeug.

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