Magnolienschlaf - Roman
Hennemann zu versorgen ist, als müsse man eine Tote pflegen. Die Alte wendet seit Tagen den Kopf ab, wenn Jelisaweta
eintritt, lässt über sich ergehen, was immer Jelisaweta tut, reagiert auf keinen Zuspruch, auf keine Milde, auf keinen Zorn.
Nur manchmal fängt sie ganz unvermittelt an zu schreien, wie irre, um gleich darauf wieder reglos dazuliegen, als hätte ihr
Geist sich längst verabschiedet, und Jelisaweta wird flau; sie denkt mit bangem Herzen an Karin Hübner und ihre Rückkunft.
Am liebsten würde sie die Alte schütteln, sie sehnt sich beinahe nach deren Anfeindungen, nach einem Zeichen von Leben, mitunter
ist sie selbst dem Schreien nahe, doch Frau Hennemann bleibt stumm. Sie hat sich ergeben, denkt Jelisaweta, aber es fehlt
an Triumph.
Jelisaweta kocht im Voraus, Grütze, Suppe, Reisfleisch, friert winzige Portionen ein, setzt die Alte dreimal täglich auf den
Toilettenstuhl, wäscht sie morgens und reinigt ihr am Abend das Gebiss. Den Rest des Tagesverbringt Jelisaweta auf dem Sofa, steckt vor Langeweile die Nachthemden und Sweatshirts einzeln in die Waschmaschine und
kramt in den Schubladen und Schränken nach einer fremden Welt, die sich aber als harmlos und öde erweist. Zu gerne hätte sie
einen Blick in das Arbeitszimmer geworfen, doch der Schlüssel ist nicht zu finden. Eine Weile hört sie die alten Vinylschallplatten
an, die im Esszimmerschrank liegen.
Mahler, Sämtliche Sinfonien, Schubert, Forellenquintett
und
Glanzlichter der Oper
. Die Liebesromane, die Jelisaweta sich mitgebracht hat, sind längst ausgelesen, die Frauenmagazine zerfleddert. Einmal pro
Woche klemmt eine dünne Zeitung an der Gartenpforte, ein kostenloses Wochenblatt. Jelisaweta erfährt, wann die Müllabfuhr
wegen Straßenbauarbeiten ihre Termine verlegen muss, dass ein Kleinlaster ein Straßenschild umgefahren hat und welcher Film
in der kommenden Woche im Kino laufen wird. Sie ruft noch ein paarmal bei Mama an, aber die geht nie ans Telefon, Jelisaweta
vermutet, dass sie den Stecker herausgezogen hat. Es ist Mamas Art, Unangenehmes aus der Welt zu schaffen.
Ziellos schlendert Jelisaweta vom Esszimmer durch das Wohnzimmer in die Küche. Sie könnte auch andersherum gehen. Niemand
macht hier Vorschriften, niemand verlangt etwas, niemand beobachtet sie, niemand teilt das Zimmer mit ihr. Niemand fragt,
wann sie schlafen geht oder was sie gegessen hat. Noch vor Wochen, zu Hause, hatte sie sich nach nichts heftiger gesehnt als
nach alledem, doch jetzt wird ihr klar, dass Freiheit etwas ganz anderes sein muss.
Sie sehnt sich nach einem Wort, einer Berührung, dieganz ihr gilt. Gab es je eine Berührung, die nur ihr gegolten hat?
Ganz hinten im Wohnzimmerschrank hat sie eine Flasche mit klebrig-süßem Wein gefunden, sie schenkt sich ein kleines Glas davon
ein und wählt Maschas Nummer. Mascha hört sich an, als spräche sie zu einer Kranken; der Tonfall der Freundin ist wie ein
Betttuch, hastig über eine üble Wunde gedeckt.
»Mein Gott, Mascha, hältst du mich für blöd? Was ist eigentlich los, irgendetwas stimmt doch nicht bei euch. Meine Mutter
hat das Telefon rausgezogen und du …«
»Sie hat was?« Mascha lacht auf. »Das sieht ihr ähnlich. Naja, also …« Maschas Stimme wird ernst. »Um es kurz zu machen, deinen
Job im Krankenhaus bist du los.«
»Wie bitte?« Jelisaweta lehnt sich gegen die Terrassentür. »Das kann nicht sein, Sergej hat mir zugesichert, dass …«
»Ach, Sergej, vergiss den, das war, bevor die Geschichte mit euch rauskam. Der tut jetzt so, als wüsste er nicht einmal deinen
Namen.«
Da ist kein Wort, das Jelisaweta sagen könnte, nur das Gefühl von Tiefe unter ihren Füßen. Sergej. Sie sieht ihn durch die
Gänge eilen, in seinen hellen Pullovern. Sergej, der einzige von den Ärzten, der nie einen Kittel trägt, immer nur Hemd und
Pullover. »Aber … wieso jetzt? Das ist doch längst vorbei.«
»Die dämliche Iwanowna hat herumgestänkert, nachdem du fort warst, keine Ahnung, woher sie es weiß, aber dass sie froh wäre,
wenn du nicht wiederkommst,das hab ich dir gleich gesagt. Zu deiner Mutter hat sie wohl auch ein paar Bemerkungen gemacht.«
»Scheiße.« Jelisawetas Stimme knickt weg.
»Nun mach dich nicht verrückt, mit dem Geld, das du jetzt verdienst, kommst du doch eine ganze Weile ohne Job aus. Dann hast
du Zeit genug, dir was anderes zu suchen.« Jelisaweta hört, wie Mascha atmet. »Du, ich muss jetzt los
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