Magnus Jonson 01 - Fluch
Antworten auf diese Fragen nicht in Boston lagen, sondern hier in Island. Natürlich konnte Magnus weiterhin vor seiner isländischen Vergangenheit, vor seiner Familie davonlaufen. Aber dann liefe er auch vor sich selbst davon. Sein ganzes Leben lang würde er flüchten, von einer Bostoner Leiche zur nächsten. Wenn er zwei Jahre in Island blieb, könnte er vielleicht Antworten auf seine Fragen finden und herausbekommen, wer er wirklich war.
Und wer sein Vater gewesen war. In den letzten Tagen hatte Magnus Sigurbjörgs Enthüllung, dass sein Vater die Mutter betrogen hatte, erfolgreich aus seinen Gedanken verdrängt. Doch das würde nicht für den Rest seines Lebens funktionieren. Dieses Wissen gehörte jetzt zu ihm. Und es würde ihn verfolgen, genau wie der Mord an seinem Vater.
Magnus trat auf die Bremse, obwohl er sich auf einem geraden Straßenabschnitt befand.
Der Mord an seinem Vater.
Dieses Rätsel hatte ihn gequält, wohin er auch ging, egal was er tat. Die Polizei hatte den Mörder nicht gefunden, und er auch nicht, sosehr er sich auch bemüht hatte. Aber vielleicht hatten sie alle am falschen Ort gesucht. Vielleicht sollte er in Island forschen.
Kaum kam Magnus dieser Gedanke in den Kopf, versuchte er ihn abzutun. Er wusste, wie viele Sorgen ihm diese Idee bereiten würde, dass er sich in weiteren erfolglosen Ermittlungen verstricken könnte. Doch einmal in seinem Gedächtnis, ließ sich diese Erkenntnis nicht mehr ungeschehen machen.
Die Familie seiner Mutter hasste seinen Vater, und dank Sigurbjörgkannte er jetzt auch den Grund. Die Verwandten gaben seinem Vater die Schuld am Tod seiner Mutter. Sie wollten Rache. Die Antwort lag in Island. Die Antwort auf alles.
Pétur sah zu, wie der kleine Trupp von Polen sein Auto bearbeitete, schrubbte, wusch, polierte. Er hatte der Versuchung widerstanden, den Arbeitern doppelt so viel Geld zu geben, damit sie gründlicher putzten. Er wollte nicht, dass sie sich an ihn erinnerten. Dass er einen weißen BMW-Geländewagen hatte, war schon mal von Vorteil. Dadurch sah man besser, wenn die Polen irgendwelchen Dreck vergaßen. Pétur beschloss, den Rest selbst zu erledigen, wenn sie fertig waren.
Normalerweise behielt Pétur einen kühlen Kopf, doch den Dreck hatte er beinahe vergessen. Wenn die Polizei am Abend zuvor vorbeigekommen wäre und seinen Wagen beschlagnahmt hätte, hätten die Techniker gewusst, wo er am vergangenen Nachmittag gewesen war.
Und das Problem mit einem weißen BMW-Geländewagen war, dass er auffiel, selbst in einem Land mit vielen teuren Geländewagen. Inga hatte ihn auf jeden Fall bemerkt; für einen Sekundenbruchteil hatten sie sich in die Augen gesehen, als er ihr am Vortag entgegengekommen war.
Weshalb er sie umgehend auf dem Handy angerufen und gebeten hatte, es nicht zu erwähnen.
Er hoffte, sie hatte wirklich den Mund gehalten. Er hoffte bei Gott, dass sie nichts gesagt hatte.
Halt suchend schloss sich seine Hand um den Gegenstand tief in seiner warmen Manteltasche.
Ein Ring.
Der Ring.
Nein, Ingileif hatte es niemandem erzählt. Sie hatte sich gewundert, als sie Pési das Þjórsárdalur hochfahren sehen hatte; sie konnte sich nicht vorstellen, was er dort wollte. Doch instinktiv hatte sie Magnus nichts davon gesagt. Ohne zu wissen, warum.
Sie redete sich ein, es sei nicht wichtig, warum sollte es wichtig sein? Doch sie dachte nicht weiter, fragte sich nicht, warum sie nichts gesagt hatte, wenn es doch nicht wichtig war.
Magnus’ Verhalten enttäuschte sie. Ingileif bildete sich gern ein, eine sehr pragmatische Einstellung zu Sex und Beziehungen zu haben. Entgegen Magnus’ Anspielung sprang sie nicht mit jedem Mann ins Bett, der ihr gefiel. Hin und wieder mochte sie eine Nacht mit Lárus verbracht haben, aber alle wussten, dass eine Nacht mit Lárus nichts zu bedeuten hatte. Zumindest alle in Reykjavík wussten das.
Sie hatte Magnus gemocht. Und sie hatte ihm vertraut. Dann hatte er plötzlich eine Freundin aus dem Hut gezaubert und Ingileif mehr oder weniger als Schlampe bezeichnet.
Dieser Idiot.
Die Verschlechterung der Beziehung zu Magnus erschwerte es Ingileif, herauszufinden, ob Hákon tatsächlich ihren Vater umgebracht hatte oder ob es Tómas gewesen war. Tómas hielt sie für unwahrscheinlich, aber sie wusste es einfach nicht genau.
Doch Ingileif kannte jemanden, der es wusste: Tómas’ Mutter.
Sie hieß Erna, und Ingileif vertraute ihr. Erna war eine kleine Frau mit blonden Locken, die aus einem Dorf in
Weitere Kostenlose Bücher