Magnus Jonson 01 - Fluch
den Westorden stammte, wo sie Hákon kennengelernt hatte, als er dort Priester war. Ingileif wusste noch, dass Erna immer zu ihrem Mann aufgesehen hatte, nicht nur wörtlich, da Hákon fast einen halben Meter größer war als seine Frau, sondern auch im übertragenen Sinn. Sie schien sich seinem Willen zu unterwerfen. Dabei war Erna eigentlich eine ehrliche, freundliche, vernünftige Frau, die dafür gesorgt hatte, dass Tómas nicht als emotionales Wrack aufwuchs. Sie musste viel Mut aufgebracht haben, um ihren Mann zu verlassen, aber es war sicherlich ein kluger Entschluss gewesen.
Erna würde wissen, ob ihr Sohn oder ihr Exmann den Arzt um gebracht hatte. Sie würde es einfach wissen.
Und so fuhr Ingileif in ihrem alten Polo hinaus nach Hella, einem Ort ungefähr fünfzig Kilometer südlich von Fluðir, wo Erna mit ihrem zweiten Ehemann lebte.
Die Fahrt im Nebel war unangenehm, aber wenigstens herrschte nicht viel Verkehr auf der Straße. Ingileif lauschte den Nach richten im Radio, hoffte auf neue Informationen über Tómas und auf die Meldung, Pastor Hákon sei verhaftet worden. Aber es kam nichts dergleichen. Es gab eine Meldung über Schüsse im Bezirk 101, über einen verletzten Polizisten, der ins Krankenhaus gebracht worden sei, und über einen amerikanischen Staatsbürger, der von der Polizei festgehalten würde.
Einen Moment lang, einen schrecklichen Moment lang, dachte Ingileif, der Polizist sei Magnus. Doch dann nannten sie den Namen Árni Holm, und Ingileif atmete auf.
Dennoch war sie fest davon überzeugt, dass Magnus etwas mit der Schießerei zu tun hatte. Vielleicht war er der eingebuchtete Amerikaner.
Hella war eine moderne Siedlung am Ufer der West Ranga, dem nächsten Fluss hinter der Þjórsá. Ingileif hatte Ernas Anschrift aus dem nationalen Telefonbuch im Internet gesucht. Sie wohnte in einem einstöckigen Haus, nur dreißig Meter vom Fluss entfernt, umgeben von einem grünen Garten. Ingileif hatte keine Ahnung, ob Erna eventuell bei der Arbeit war, schließlich hatten die meisten Isländerinnen einen Job, doch als sie auf die Türklingel drückte, öffnete Erna ihr.
Sie erkannte Ingileif auf der Stelle und bat sie ins Haus. Ernas blondes Haar war immer noch blond, aber inzwischen gefärbt, außerdem war sie rundlicher geworden. Doch ihre blauen Augen funkelten, als sie Ingileif erblickte, auch wenn sie schnell von Sorge umwölkt wurden. »Hast du diese furchtbare Meldung über Tómas gehört?«, fragte sie, während sie sich in der Küche ans Kaffeekochen machte.
»Ja«, sagte Ingileif. »Man wird ja praktisch drauf gestoßen. Es steht in allen Zeitungen. Hast du ihn besucht?«
»Nein. Die Polizei lässt mich nicht zu ihm. Ich habe mit seiner Anwältin telefoniert. Sie meint, die Polizei hätte nicht genügend Beweise. Ich wusste nicht mal, dass er diesen Agnar kannte. Warum sollte er den Mann umbringen? Die Anwältin meinte, es hätte alles mit einem Manuskript zu tun, das der Professor verkaufen wollte. Komm, Ingileif, gehen wir nach nebenan und setzen uns.«
Das Wohnzimmer hatte ein prächtiges Panoramafenster mit Blick auf den Fluss, der aber bei dem Nebel kaum zu sehen war. Ingileif fiel ein, dass Ernas Mann Filialleiter in einer örtlichen Zweigstelle der Bank war. Offensichtlich ging es ihm gut. Wie alle Isländer seit der kreppa fragte sie sich, ob dieser Banker sich in den Boomzeiten auch eine zu hundert Prozent finanzierte Hypothek gewährt hatte.
»Es geht um unsere Familie, Erna. Und um deinen Exmann.« »Ach. Das habe ich schon befürchtet.«
»Bei dem Manuskript handelt es sich um eine alte Saga, die seit Generationen im Besitz meiner Familie ist. Gauks Saga. Hat Hákon mal mit dir darüber gesprochen?«
»Eigentlich nicht. Aber darüber hat er doch so viel mit deinem Vater geredet, nicht?«
»Genau. Und als meine Mutter Ende letzten Jahres starb ...« »Ach, das tut mir furchtbar leid. Ich wäre zur Beerdigung gekommen, wenn ich gekonnt hätte.«
»Ja. Also, nach ihrem Tod beschloss ich, die Saga zu verkaufen, und zwar über Professor Agnar. Die Polizei glaubt, Agnar sei wegen dieser Saga umgebracht worden.«
»Aha. Aber ich verstehe immer noch nicht, was Tómas damit zu tun haben soll.«
Doch Ingileif sah an Ernas Gesicht, dass es ihr langsam dämmerte.
»Alles geht zurück auf den Tod meines Vaters.«
»Ach, das habe ich mir schon gedacht.« Erna wurde argwöhnisch.
»Mit Sicherheit wird dir die Polizei bald Fragen dazu stellen. Vielleicht noch heute«,
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