Magnus Jonson 01 - Fluch
Haustür geöffnet, und er wandte sich ab, da mit die neuen Besitzer sich nicht von einem Fremden beobachtet fühlten.
Er ging den Hügel hinunter in Richtung Stadtzentrum, vorbei an vier Männern und einer Frau, die große Kisten aus einem Van luden – eine Band, die sich auf den Samstagabend vorbereitete. Das Mädchen in dem Leopardenmini flitzte auf ihrem Fahrrad vorbei. In Reykjavík war es nicht ungewöhnlich, jemanden mehrmals am Tag auf der Straße zu sehen, dachte Magnus.
Als er sich dem Stadtzentrum näherte, stieß er auf Demonstranten, die von Polizisten in Kampfausrüstung umringt wurden. Diewöchentliche Kundgebung vor dem Parlament war noch immer gut besucht, Magnus hörte die Rufe und Gesänge der Menschenmenge. Viele Demonstranten hielten Fackeln in der Hand. Doch soweit er sehen konnte, hatte die Polizei alles unter Kontrolle.
Er beschloss, den Platz zu meiden, und schlüpfte stattdessen in die Buchhandlung Eymundsson, ein gläsernes Architekturjuwel auf der Austurstræti, wo er das letzte englische Exemplar von Der Herr der Ringe und die Völsunga-Saga auf Isländisch mitnahm.
Dann entfernte er sich vom Trubel und schlenderte hinüber zum alten Hafen. Er entdeckte eine weitere Erinnerung an seine Kindheit, den kleinen roten Kiosk, Baejarins beztu pylsur . Jeden Mittwochabend war er mit seinem Vater nach dem Handballtraining dorthin gegangen und hatte einen Hotdog gegessen. Magnus reihte sich in die Schlange ein. Anders als der Rest von Reykjavík hatte sich Baejarins beztu im Laufe der Jahre nicht verändert, nur hing draußen jetzt das Foto eines grinsenden Bill Clinton, der in ein großes Würstchen biss.
Mit seinem Hotdog bummelte Magnus entlang dem Kai durch den Hafen. Zu dieser Abendstunde war es ruhig, nur in der Ferne hörte man den Lärm der Demonstranten. Tagsüber wurde in diesem Hafen noch gearbeitet. Auf einer Seite lagen die Trawler, auf der anderen schnittige Walbeobachtungsschiff e und die kleinen Boote der Küstenfischer. Es roch nach Fisch und Diesel, unweit stand eine gedrungene weiße Tanksäule für Wasserstoff . Am Ende des Kais blieb Magnus in respektvollem Abstand zu einem mit Ködern in einer Tüte herumnestelnden Fischer stehen und ließ die Stille auf sich wirken.
Jenseits der Hafenmauer spiegelten sich der schwarze Fels und der weiße Schnee von Esja im stahlgrauen Wasser. Eine Möwe kreiste um Magnus, suchte nach weggeworfenen Krumen und flog nach ein paar Sekunden mit einem enttäuschten Schrei davon. Ein amtlich wirkendes Motorboot fuhr durch die Hafeneinfahrt, im Einsatz für die nautische Bürokratie.
Island hatte sich seit den erschütternden Ereignissen seiner Kindheit unglaublich stark verändert, doch was Magnus in Reykjavík wiedererkannte, rief ihm die frühen Jahre in Erinnerung, die glücklichen Jahre. Es gab keinen Grund, seine restlichen Verwandten in Akureyri zu besuchen; sie brauchten gar nicht zu wissen, dass er überhaupt im Land war. Er freute sich, dass sein Isländisch wieder besser wurde, auch wenn ihm bewusst war, dass er mit einem leichten amerikanischen Akzent sprach. Er musste noch an dem gerollten »r« arbeiten.
Reykjavík war weit von Boston entfernt, es lag im hohen Norden. Fünfundzwanzigster Breitengrad. Das bestätigten ihm nicht nur die kalte Luft und die schneebedeckten Ebenen – auch der Hafen von Boston war mancherorts reichlich kalt und öde –, nein, es lag am Licht: klar und dabei doch zart, blass, schwach. Die Grautöne im Hafen von Reykjavík waren von einer besonderen Weichheit, verglichen mit den härteren Farben im Bostoner Hafen.
Dennoch wäre Magnus froh, wenn das Datum des Gerichtstermins endlich feststünde und er zurückkehren könnte. Auch wenn der Agnar-Fall interessant war, vermisste Magnus die potenzielle Gefahr auf den Straßen Bostons. Irgendwann in den letzten zehn Jahren war seine Arbeit mehr als nur ein Job geworden – das alltägliche Chaos von Schießereien, Messerstechereien und Vergewaltigungen, die Suche nach den Bösen, denen dann der Prozess gemacht wurde. Es war ein Bedürfnis geworden, eine Gewohnheit, eine Droge.
Reykjavík war einfach etwas anderes. Eine Spielzeugstadt.
Magnus spürte ein stechendes Schuldgefühl. Schließlich war er hier in Sicherheit, Tausende von Kilometern von jener Stadt entfernt, in der es vor Drogenbanden und korrupten Beamten nur so wimmelte. Aber Colby war nicht hier. Wie konnte er sie dazu bewegen, auf ihn zu hören? Magnus hatte das Gefühl, je hartnäckiger er
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