Magnus Jonson 01 - Fluch
sie bedrängte, desto störrischer reagierte sie. Nur warum? Warum musste sie so sein? Warum musste sie ausgerechnet jetzt die Frage nach dem Stand ihrer Beziehung stellen? Wäre er feinfühliger,wäre er beispielsweise wie Colby, dann würde er sich überlegen, wie er sie dazu bringen könnte, zu ihm zu kommen. Doch sobald er anfing, sich einen Plan zurechtzulegen, schwirrte ihm der Kopf.
Mit einem Seufzer ging er zurück in die Stadt. Als er über die Laugavegur den Hügel wieder hinaufstieg, hielt er Ausschau nach einer Kneipe, wo er ein schnelles Bier trinken könnte. In einer Seitenstraße erspähte er einen Laden namens Grand Rokk. Von außen sah er ein bisschen aus wie ein alter Bostoner Pub, doch zusätzlich standen vor dem Laden Außentische unter einem Zelt, in dem ein Dutzend Gäste tranken und rauchten. Innen war die Kneipe ungefähr zu einem Viertel gefüllt. Magnus schob sich an mehreren Stammgästen an der Theke vorbei und bestellte bei dem kahlrasierten Barkeeper ein großes Thule. Er fand einen freien Barhocker in der Ecke und trank sein Bier.
Die anderen Gäste sahen aus, als seien sie schon länger da. Einige hatten neben ihrem Bier Schnapsgläser mit einer braunen Flüssigkeit stehen. In Tischen an der Wand waren Schachbretter eingelassen. An einem wurde gespielt. Müde schaute Magnus zu. Die Spieler waren nicht besonders gut, er hätte sie problemlos geschlagen.
Lächelnd erinnerte er sich daran, wie er Abend für Abend seinen Vater herausgefordert hatte, einen ernstzunehmenden Gegner. Magnus hatte den cleveren Strategen nur mit aggressiven Angriffen auf den König bezwingen können. Fast immer verlief es erfolglos, nur sehr selten schaffte er den Durchbruch und gewann das Spiel, zur Freude von Vater wie Sohn gleichermaßen. Das wusste Magnus, obgleich sein Vater nicht im Traum darauf gekommen wäre, ihn absichtlich gewinnen zu lassen; er feuerte Magnus immer an, trieb ihn weiter.
Zu oft sah Magnus seinen Vater nur durch das grausame Prisma seines Todes und vergaß die einfacheren Zeiten vor seiner Ermordung.
Ragnar war ein sehr kluger Mann gewesen, ein Mathematiker von internationalem Ruf. Deshalb hatte man ihm die Stellung amMIT angeboten. Und er war ein Held, er war der Retter, der Magnus und seinen kleinen Bruder aus dem Elend in Island fortgeholt hatte, als sie schon Angst hatten, er lasse sie im Stich. Magnus hatte viele schöne Erinnerungen aus seiner Jugend an seinen Vater: nicht nur ans Schachspielen, auch an das gemeinsame Lesen von Sagas, an Wanderungen in den Adirondacks und in Island. An lange abendliche Diskussionen über alle Themen, die Magnus interessierten, Konfrontationen, bei denen der Vater Magnus immer zuhörte und seine Meinung respektierte, ihn aber dennoch vom Gegenteil zu überzeugen versuchte.
Trotz allem gab es etwas im Leben seines Vaters, das Magnus nie verstanden hatte: seine Beziehung zu Frauen. Magnus konnte nicht verstehen, warum Ragnar seine Mutter geheiratet und dann verlassen hatte. Und überhaupt nicht kapieren konnte Magnus, warum er dann anschließend diese grässliche Kathleen zur Frau genommen hatte. Sie war die junge Frau eines anderen Professors vom MIT, und Magnus vermutete später, dass sie schon eine Affäre gehabt hatten, als Magnus zu seinem Vater nach Boston zog. Kathleen war zwar auf den ersten Blick hübsch und charmant, doch sie wollte immer alles unter Kontrolle haben und war nicht gut auf Magnus und Ollie zu sprechen. Nach nur wenigen Monaten Ehe war sie auch nicht mehr gut auf Ragnar zu sprechen. Wieso sein Vater das nicht hatte kommen sehen, konnte Magnus nicht begreifen.
Achtzehn Monate nach dieser furchtbaren Episode lag Ragnar erstochen im Wohnzimmer des Hauses, das sie in den Sommerferien in Ipswich mieteten, am North Shore von Boston.
Magnus hatte keinen Zweifel daran gehabt, wer der Hauptverdächtige war. Die mit dem Fall befassten Beamten hörten sich seine Theorien über seine Stiefmutter zuerst verständnisvoll, dann immer gereizter an. Anfangs fühlten sie Kathleen gründlich auf den Zahn, dann ließen sie sie laufen. Das wollte Magnus nicht einleuchten, denn es gab keinen anderen Verdächtigen. Monate vergingen, ohne dass die Polizei mit einer besseren Theorie aufwartenkonnte. Sie blieb dabei: Ein Fremder sei ins Haus eingebrochen, habe Ragnar erschossen und sich dann in Luft aufgelöst, ohne eine Spur zu hinterlassen. Es gab nur ein einziges Haar, das die Polizei trotz DNA-Test niemandem hatte zuordnen können.
Erst als
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