Magnus Jonson 01 - Fluch
lange auf der Kippe gestanden. Die Wahrheit über die Untreue seines Vaters hatte irgendetwas tief in Magnus aus dem Gleichgewicht gebracht. Selbst jetzt, wo ihm die Strafpredigt über seine Dummheit noch in den Ohren klang, wollte ein Teil von ihm einen kurzen Abstecher zum Grand Rokk machen und sich dort ein Bier genehmigen. Und dann noch eins. Natürlich würde er damit alles vermasseln. Aber gerade darum wollte er es tun.
Die Situation war gefährlich. Irgendwie musste er das, was Sigurbjörg ihm erzählt hatte, zurück in den Büchse der Pandora stopfen.
Nur dann könnte er sich voll auf den Agnar-Fall konzentrieren. Magnus überlegte, warum Ingileif ihn wohl sprechen wollte. Am Telefon hatte sie sehr nervös geklungen.
Er traute ihr nicht. Je länger er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihm, dass die Saga eine Fälschung von Agnar war. Ingileif war seine Komplizin, sie verlieh der Sache Glaubwürdigkeit. Die beiden hatten eine sehr enge Beziehung gehabt, vielleicht bis in die Gegenwart, ungeachtet dieser Literaturstudentin, der Balletttänzerin.
Das Höfdi-Haus stand abseits auf einem grasbewachsenen Quadrat zwischen zwei stark befahrenen Straßen, die am Ufer entlangführten. Eine einsame Gestalt hockte auf einer niedrigen Mauer neben dem weißen Gebäude.
»Danke fürs Kommen«, sagte Ingileif.
»Kein Problem«, erwiderte Magnus. »Deshalb habe ich dir meine Nummer ja gegeben.«
Magnus setzte sich neben Ingileif auf die Mauer. Sie schauten auf die Bucht. Eine gleichbleibende Brise blies kleine Wolken über den blassblauen Himmel, Schatten huschten über das glitzernde graue Wasser. In der Ferne konnte Magnus den Gletscher Snæfellsnes ausmachen, ein undeutlicher weißer Fleck über dem Meer.
Ingileif war nervös, sie saß kerzengerade auf dem Mäuerchen, die Schultern nach hinten gedrückt. Ihre gerunzelte Stirn vertiefte die Kerbe in ihrer Augenbraue. Sie sah aus wie viele junge Frauen in Reykjavík: schlank, blond, hohe Wangenknochen. Doch gleichzeitig hatte sie etwas an sich, das sie von den anderen unterschied, eine Entschlossenheit, eine Zielstrebigkeit, eine Ausstrahlung, die vermittelte, dass sie trotz aller sie offensichtlich plagenden Zweifel und Sorgen wusste, was sie wollte, und es auch bekommen würde. Magnus fand Ingileif anziehend. Sie schien mit sich selbst zu kämpfen, ob sie ihm etwas Bestimmtes erzählen sollte oder nicht.
Schweigend saß er neben ihr. Wartete. Er entdeckte eine kleine Narbe auf ihrer linken Wange, die ihm bisher nicht aufgefallen war.
Schließlich begann sie zu sprechen. Einer musste es ja tun. »Weißt du, dass es hier spukt?«
»Wo, im Höfdi-Haus?« Magnus schaute sich über die Schulter zu dem eleganten weißen Gebäude um.
»Ja. Dort geht der Geist eines jungen Mädchens um, das sich vergiftete, als sie wegen Inzests mit ihrem Bruder verurteilt wurde. Sie jagt den Bewohnern immer wieder eine Heidenangst ein.«
»Die Isländer müssen sich angewöhnen, in Bezug auf Geister etwas mutiger zu werden«, sagte Magnus.
»Nicht nur die Isländer. Früher war hier das Britische Konsulat. Der Konsul hatte solche Angst, dass er das Außenministerium anflehte, mit dem Konsulat umziehen zu dürfen. Angeblich macht das junge Mädchen ständig das Licht an und aus.« Ingileif seufzte. »Sie tut mir ganz schön leid.«
Magnus meinte, ein Beben in ihrer Stimme zu hören. Sonderbar. »Und darüber wolltest du mit mir sprechen?«, fragte er. »Soll ich dort mal nachsehen? Im Moment sind offenbar alle Lichter aus.«
»Nein, nein«, wiegelte Ingileif ab und lächelte schwach. »Ich wollte nur wissen, wie die Ermittlung vorangeht.«
»Wir machen Fortschritte«, sagte Magnus. »Wir müssen den Komplizen von Steve Jubb ausfindig machen. Und noch wurde uns die Echtheit der Saga nicht bestätigt.«
»Aber sie ist echt.«
»Ja?«, sagte Magnus. »Ist sie nicht vielleicht ein ausgeklügelter Streich von Agnar? Wurde er möglicherweise deshalb ermordet? Weil Steve Jubb merkte, dass man ihn auf den Arm nehmen wollte?«
Ingileif lachte. Die Anspannung in ihrem Körper ließ nach. Magnus wartete darauf, dass sie etwas sagte.
»Und?«, fragte er.
»Ich wäre froh, wenn ihr recht hättet«, sagte Ingileif. »Und ich verstehe auch, warum ihr das vermutet. Aber ich weiß , dass sie echt ist. Sie hat über meinem gesamten Leben und seit Generationen über dem aller Verwandten geschwebt.«
»Sagst du .«
»Glaubst du mir etwa nicht?«
»Nicht so ganz«, gab
Weitere Kostenlose Bücher