Magnus Jonson 01 - Fluch
ein Torffeuer hockten und sich die Saga an langen Winterabenden immer wieder vorlasen. Es musste schwierig gewesen sein, ihre Existenz vor der weitverzweigten Familie, vor den Nachbarn, den angeheirateten Verwandten zu verheimlichen. Doch sie hatten es geschafft. Und sie hatten die Saga nicht verkauft. Das Leben eines Bauern in Island war in den letzten drei Jahrhunderten unglaublich armselig gewesen. Doch selbst als ihre Vorfahren unter unvorstellbarer Armut und Hungersnot litten, waren sie nicht den einfachen Weg gegangen. Und sie hatten das Geld mehr gebraucht als Ingileif jetzt.
Welches Recht hatte sie, die Saga jetzt in Geld umzusetzen?
Ihr Bruder Pétur hatte recht gehabt, als er Ingileif mahnte, nicht zu verkaufen. Dabei hasste er die Saga noch mehr als sie.
Sie sah sich in der Galerie um. Die ausgestellten Objekte – Vasen, Taschen aus Fischhaut, Kerzenhalter, Lavalandschaften – waren wirklich schön. Aber waren sie tatsächlich so wichtig?
Die Polizei sagte, man bräuchte die Saga als Beweismittel. Sie würde deren Existenz geheim halten, solange die Ermittlungen andauerten. Doch irgendwann würden alle Bescheid wissen. Nicht nur die Isländer, sondern die ganze Welt. Tolkien-Fans aus Amerika, England und dem Rest Europas würden alles über das Manuskriptwissen wollen. Das Geheimnis würde vollständig ans grelle Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden.
Irgendwann würde Ingileif die Saga dann verkaufen dürfen. Zweifellos würde sie aufgrund der öffentlichen Aufmerksamkeit eine hübsche Summe erzielen, solange es der isländischen Regierung nicht irgendwie gelang, die Saga zu beschlagnahmen. Wenn Ingileif die Galerie also noch ein paar Monate über Wasser hielt, könnte sie deren Fortbestand sichern.
Bis zu Agnars Tod war die Galerie das Wichtigste in Ingileifs Leben gewesen. Jetzt war ihr klar, wie falsch das gewesen war.
Die Galerie ging schlicht und einfach pleite, weil Ingileif die Geschäftssituation falsch eingeschätzt hatte. Kreppa machte alles sicherlich noch schlimmer, doch sie hätte Nordidea niemals vertrauen dürfen. Ingileif trug die Schuld und hätte die Konsequenzen ziehen müssen.
Der Professor und die Polizisten stiegen in ihre Wagen und fuhren davon. Ingileif fühlte sich gefangen in der kleinen Galerie. Sie schnappte sich ihre Tasche, schaltete das Licht aus und schloss hinter sich ab. Egal, wenn ihr an diesem Vormittag das eine oder andere Geschäft entging.
Sie lief den Hang hinab, ihre Gedanken drehten sich unablässig im Kreis. Bald erreichte sie das Wasser und nahm den Fahrradweg, der am Ufer entlangführte. Ingileif ging in östliche Richtung, dem mächtigen Koloss von Esja entgegen, dessen Gipfel von Wolken umhüllt war. Die vom Meer hereinpeitschende Brise kühlte ihr Gesicht. Die Geräusche des Reykjavíker Verkehrs vermischten sich mit den Rufen der Möwen. Einige Meter hinter dem roten Vulkangestein, das als Hafendamm diente, zogen zwei Enten ihre Kreise.
Ingileif fühlte sich so einsam. Ihre Mutter war vor wenigen Monaten gestorben, ihr Vater bereits, als sie zwölf Jahre alt war. Ihrer Schwester Birna war das alles egal, sie würde nichts verstehen. Birna hätte vielleicht ein wenig Mitleid, aber sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, gefangen in ihrem schönen Haus, ihrer furchtbaren Ehe und inmitten ihrer Wodkaflaschen. Birna hattefür Gauks Sage nie Interesse gezeigt, und nach dem Tod des Vaters hatte sie die feindselige Haltung ihrer Mutter gegenüber der Familienlegende übernommen. Birna hatte zu Ingileif gesagt, es sei ihr völlig egal, was Ingileif mit dem dummen Ding täte.
Ingileif wusste, dass sie mit Pétur sprechen sollte, aber sie konnte sich einfach nicht dazu überwinden. Voller Inbrunst hatte er die Saga für das gehasst, was sie seiner Meinung nach ihrem Vater angetan hatte. Dennoch war selbst Pétur davon überzeugt, dass ein Verkauf falsch wäre. Ingileif hatte ihm versichert, dass Agnar ein Geschäft in die Wege leiten könne, ohne das Geheimnis zu verraten, und erst daraufhin hatte sich Pétur widerwillig einverstanden erklärt. Jetzt würde er sauer auf seine Schwester sein, und zwar mit gutem Grund. Auch von ihm war also nicht viel Verständnis zu erwarten.
Pétur musste in der Presse von dem Mord an Agnar gelesen haben, hatte sich aber noch nicht mit Ingileif in Verbindung gesetzt. Zum Glück.
Es war schon paradox. Sie war entschlossen gewesen, sich vom Tod ihres Vaters nicht so aus der Bahn werfen zu lassen wie die anderen
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