Magnus Jonson 02 - Wut
Magnus, er habe es mit einer alten Dame zu tun, doch als er genauer hinsah, merkte er, dass sie wahrscheinlich nicht älter als fünfzig war.
Sie lächelte, ein kurzes Aufflackern von Leben in einem müden Gesicht.
Krebs.
»Ich heiße Magnus und bin bei der Polizei von Reykjavík«, schummelte er ein wenig bei der Beschreibung seiner Stellung. Zum Glück waren die Polizisten in Island nicht so gewissenhaft, wenn sie sich vorstellten. Anders als die amerikanischen Kollegen hielten sie nicht jedem ihre Marke ins Gesicht. »Kann ich mit Ísak sprechen?«
»Oh, der ist nicht da«, sagte die Frau. »Der ist an der Uni.«
»An einem Samstag?«, fragte Magnus. »Ist er in der Bibliothek?« Magnus hoffte es: Dort würde er einfach aufzuspüren sein.
»Oh, nein!« Wieder lächelte die Frau, was Magnus zu Herzen ging. Hoffentlich war ihr Zustand die Folge einer Chemotherapie, nicht der Krankheit selbst. Das war natürlich nicht festzustellen, und er konnte auch schlecht danach fragen. »Er ist in London.«
»In London? Er geht in London zur Uni?«
»Ja. Zur London School of Economics. Er hat gerade mit dem letzten Jahr begonnen.«
Innerlich verfluchte Magnus seinen Kollegen Árni. Er fragte sich, warum Reykjavíks bester Kriminalist nicht erkundet hatte, wo Ísak studierte, oder ob Árni es erfahren hatte, aber nicht wichtig genug fand, um es schriftlich festzuhalten. Das eine war so schlimm wie das andere. Dieser Hohlkopf!
»Ich nehme an, du bist seine Mutter?«
Die Frau nickte.
»Darf ich vielleicht ein paar Fragen stellen? Es geht um den Tod von Gabríel Örn Bergsson im Januar.«
»Natürlich, komm herein!«, sagte die Frau. »Ich heiße Aníta. Ich hole dir einen Kaffee.«
»Bitte keine Umstände!«, sagte Magnus.
»Unsinn! Das gehört zu den wenigen Dingen, die ich noch machen kann. Mein Mann ist Golf spielen, er kommt erst in ein paar Stunden wieder.«
Magnus zog seine Schuhe aus und folgte Aníta in die Küche, wo eine Kanne Kaffee wartete. Quälend langsam schenkte sie ihm eine Tasse ein. Sie setzten sich an den Küchentisch.
Die Frau wirkte schon jetzt erschöpft. Magnus beschloss, es kurz zu machen. »Also hat Ísak auch letztes Jahr in London studiert?«
»Ja. Über Weihnachten kam er nach Hause. Er interessierte sich sehr für die Demonstrationen. Obwohl das neue Semester an der LSE schon begonnen hatte, kam er eigens für die Eröffnung des Parlaments noch mal her. Er meinte, es sei ein historischer Moment, er wollte dabei sein. Ich denke, er hatte recht.«
»Das heißt, er ging an dem Tag zur Demo, als Gabríel Örn umgebracht wurde?«
»Ja. Sein Vater war sauer, verständlicherweise. Infolge der Proteste hatte er seine Stellung im Ministerium verloren.« Sie zögerte. »Du hast gerade gesagt, dass er umgebracht wurde. Ich meine, er hätte Selbstmord begangen?«
»Hm, das nahmen wir anfangs an«, entgegnete Magnus. »Dein Sohn und dein Mann haben also unterschiedliche politische Ansichten?«
»Das kann man wohl laut sagen. Samúel ist seit seinem achtzehnten Lebensjahr Mitglied der Unabhängigkeitspartei, und Ísak ist überzeugter Sozialist. Sie streiten sich über alles: Klimawandel, die Aluminiumwerke, Europa und so weiter. Eigentlich ist es ein Witz, da sich beide so stark politisch engagieren.«
»Wie radikal ist Ísak?«, fragte Magnus.
Aníta überlegte. »Eine interessante Frage«, sagte sie. »Nach heutigem Maßstab würde man ihn wohl als radikal bezeichnen. Ich meine, die meisten seiner Freunde wollen weg von hier, wollen Banker oder Jurist werden. Zumindest letztes Jahr noch. Aber Ísak liest bis heute Marx und Lenin, auch wenn ich nicht glaube, dass er Kommunist ist oder so. Verglichen mit meiner Generation ist er nur leicht links. Island hat sich geändert, nicht wahr?«
»Ganz bestimmt«, sagte Magnus.
»Vielleicht ändert es sich wieder zurück«, meinte Aníta. »So wie es früher war. Hoffentlich noch schnell genug …«
Magnus wollte gerade fragen: »Wofür?«, da begriff er, dass die Frau von ihrem Krebs sprach. Sie wurde von Minute zu Minute fahler.
»Kennt Ísak eine Frau namens Harpa Einarsdóttir? Sie hat für die Ódinsbanki gearbeitet.«
»Nein, ich glaube nicht. Es könnte schon sein, aber die meisten seiner Freunde sind noch an der Uni. War das die Frau, mit der er sich in der Kneipe gestritten hat?«
Magnus nickte.
»Nein. Da hat er sie zum ersten Mal gesehen.« Aníta runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, was da über ihn gekommen ist. So was ist
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