Magnus Jonson 02 - Wut
Notizen hatte die Befragung von Gulli im Januar ergeben, dass Björn bei ihm übernachtet und Gulli Harpa am Morgen
nach Gabríel Örns Tod in der Wohnung kennengelernt hatte. Es war unwahrscheinlich, dass Magnus noch mehr Informationen erhalten würde, doch man wusste ja nie. Er wollte noch einmal wiederkommen.
Er schrieb sich Gullis Telefonnummer auf, kehrte zu seinem Wagen zurück und machte sich auf die lange Fahrt nach Grundarfjörður.
Gesenkten Kopfes eilte Harpa am Rande der Bucht entlang. Die Sonne schien, die Wolken über dem Berg Esja hatten sich verzogen, doch sie bekam es kaum mit. Das erneute Auftauchen dieses Magnus mit seiner Kollegin von Scotland Yard hatte Harpa erschüttert. Da sie jetzt Bescheid wussten über Óskar und Markús, würden sie ihr keine Ruhe mehr lassen.
Den ganzen Morgen war sie unkonzentriert gewesen, bis Dísa ihr schließlich eine Stunde freigegeben hatte. Harpa hatte erklärt, die Polizei erkundige sich nach dem Selbstmord von Gabríel Örn, weil sie die ehemalige Freundin des Bankers gewesen sei. Dísa hörte verständnisvoll zu, doch Harpa spürte einen gewissen Argwohn. Sicherlich fragte sich Dísa, warum die Polizei von Harpa hatte wissen wollen, wo sie am Dienstag und Mittwoch gewesen sei.
Es war schon schlimm genug, Dísa anlügen beziehungsweise ihr die Wahrheit verschweigen zu müssen. Doch es war Markús, mit dem Harpa richtige Probleme hatte. Sie konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen. Sie konnte ihrem eigenen Sohn nicht ins Gesicht blicken!
Er hatte bereits gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Normalerweise war er ein lieber Junge, doch jetzt fing er an, sich aufzuspielen. Das würde nur noch schlimmer werden.
Und da die Polizei nun wusste, dass Óskar sein Vater war, würde Harpa es nicht mehr geheim halten können. Markús würde es irgendwann herausbekommen, Óskars Familie ebenso. Vielleicht sogar die Presse. Und irgendwann würde er erfahren, dass seine Mutter eine Mörderin war.
Harpa hatte eine enge Bindung zu ihrem Sohn. Sie hatte Angst davor, dass sie zerstört würde.
Sie musste unbedingt mit Björn sprechen. Aber der war irgendwo draußen auf dem Atlantik.
So konnte sie nicht weitermachen. Sie sollte einen Schlussstrich ziehen. Zur Polizei gehen und alles beichten. Dafür geradestehen, was sie getan hatte. Sie hatte Gabríel ja nicht töten wollen, das würde der Richter verstehen. Vielleicht würde sie nur des Totschlags statt des Mordes schuldig gesprochen. Sie würde ins Gefängnis wandern, aber nicht für den Rest ihres Lebens. Schließlich waren sie in Island mit seiner berühmten milden Gesetzgebung.
Aber Björn würde ebenfalls verhaftet werden. Wahrscheinlich würde er wegen Beihilfe oder als Mitwisser eingebuchtet, oder wie man das nannte. Die anderen genauso, die ihr geholfen hatten, sogar dieser Student Ísak, der ihr erst nicht getraut hatte. Sie alle hatten so viel für Harpa getan, sie konnte diese Leute jetzt nicht verraten.
Und was würde aus Markús? Sicher, ihre Mutter würde sich um ihn kümmern, sehr gut sogar, aber Harpa konnte den Gedanken nicht ertragen, ihn nicht aufwachsen zu sehen.
Sie atmete tief durch. Irgendwie würde sie es durchstehen müssen. Sie musste bei ihrer Version bleiben, einen klaren Kopf behalten und aufpassen, dass sie nicht hinter Gitter wanderte. Irgendwie würde sie die Kraft dazu aufbringen müssen.
Harpa schniefte. Die Tränen auf ihren Wangen kühlten in der frischen Luft ab. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass sie weinte. Sie war dabei, den Halt zu verlieren.
Es war sonderbar. Harpa hatte sich immer als durchsetzungsfähige Frau empfunden, als klug und robust. Das musste man schon sein, um bei der Ódinsbanki genommen zu werden. Obwohl es in Island in allen Branchen Frauen gab, herrschte in der Finanzwelt eine Machokultur. Hart arbeiten, intensiv leben. Bei der Ódinsbanki wurden Geschäfte abgeschlossen, weil die Mitarbeiter schneller waren als die anderen, und sie waren bereit,
Risiken einzugehen, vor denen andere Banken zurückscheuten. Óskar hatte darauf bestanden, dass alle sein Lieblingsbuch lasen, Blink von Malcolm Gladwell. Darin wurde behauptet, dass der Instinkt die besten Entscheidungen in Sekundenbruchteilen traf. Harpa hatte sich behauptet, mit der Unterstürzung von Gabríel Örn, wie sie zugeben musste. Sie waren ein Team gewesen – Harpa besaß die analytischen Fähigkeiten, und er hatte die Aggressivität und Skrupellosigkeit, um die Abschlüsse durchzuziehen.
Es hatte
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