Magnus Jonson 02 - Wut
vernehmen. Abgesehen von allem anderen mussten solche Vernehmungen auf Isländisch geführt werden, wenn sie vor Gericht als Beweis zulässig sein sollten. Außerdem wäre Baldur dagegen. Doch es gab noch eine letzte Frage, die Magnus stellen musste. »Harpa, wo warst du in der Nacht, als Óskar ermordet wurde?«
Unwillkürlich zog sie den Kopf ein. »Er wurde doch in London umgebracht, oder?«
Magnus nickte.
»Nun, ich war in Island.«
»Kannst du das beweisen?«
»Ja, sicher. Ich bin früh am nächsten Morgen hier zur Arbeit gegangen. Das kannst du dir von Dísa bestätigen lassen.«
Eine Dreiviertelstunde später hielt Magnus vor dem Flughafenterminal.
»Danke, dass du mir Harpa vorgestellt hast«, sagte Sharon. »Ich weiß die Mühe zu schätzen.«
»Ihr Alibi für die Mordnacht ist gut«, sagte Magnus. »Trotzdem glaube ich, dass es eine Verbindung gibt. Ich dachte einfach, du solltest ihre Geschichte kennen. Für den Fall, dass bei dir etwas auftaucht.«
»Óskar war offenbar ein interessanter Mann«, sagte Sharon.
»Die Presse hier hasst ihn«, entgegnete Magnus. »Ihn und seine Bankerkollegen.«
»Das kann ich gut verstehen«, meinte Sharon. »Aber auf die Menschen, die ihn persönlich kannten, scheint er Eindruck gemacht zu haben.«
»Auf diese Weise sorgte er wahrscheinlich dafür, dass die Leute ihn unterstützten«, sagte Magnus. »Er war der Erfolg in Person. Ich werde nur einfach das Gefühl nicht los, dass das der Grund für seinen Tod ist.«
»Willst du damit sagen, er hätte es verdient zu sterben?«
»Nein, natürlich nicht. Das haben wir auch gar nicht zu beurteilen, oder? Ich habe schon Morde an deutlich unangenehmeren Menschen als Óskar untersucht; du bestimmt auch. Er selbst hat immerhin niemanden getötet, oder?«
»Nein, aber er hat ein ganzes Land in den Bankrott gestürzt. Er und seine Kollegen.«
»Ja«, sagte Magnus. Obwohl Óskar und seine Freunde die Wirtschaft sicherlich nicht mit Absicht zerstört hatten. Man konnte es nicht »vorsätzlich« nennen, eher einen »Kollateralschaden«. Eher Totschlag als Mord. Doch auch für Totschlag wanderte man ins Gefängnis.
»Wie machst du jetzt weiter?«, fragte Sharon. »Stellst du die Ermittlungen ein?«
»Baldur verlangt das. Aber der Selbstmord von Gabríel Örn bereitet mir weiterhin Magenschmerzen. Dieses Wochenende habe ich frei. Ich denke, ich werde noch ein bisschen herumschnüffeln, vielleicht ein zweites Mal mit den Leuten sprechen, die nach seinem Tod befragt wurden.«
»Melde dich«, sagte Sharon.
»Mach ich«, erwiderte Magnus. »Und viel Glück mit Charlie!«
14
Hafnarfjörður war ein Fischereihafen am Rande des Lavafelds außerhalb von Reykjavík, den Magnus auf dem Rückweg vom Flughafen passierte. Er fuhr an dem gewaltigen Aluminiumwerk von Straumsvík vorbei, wo Gabríel Örns Leiche im Januar an Land geschwemmt worden war. Entlang der Straße erstreckte sich ein Golfplatz über die Lava. Die angelegten Grüns wirkten wie Krater. Magnus verließ die Autobahn.
Der Hafen wurde von einem Kreis flacher Berge eingekesselt. Hafnarfjörður war bei der wohlhabenderen isländischen Mittelklasse beliebt geworden; einige der Häuser hatten vor wenigen Jahren zu astronomischen Preisen den Besitzer gewechselt. Heute natürlich nicht mehr.
Magnus fuhr über den Kamm, bis er ein Neubaugebiet erreichte, das noch nicht fertiggestellt war. Ein Kran verharrte reglos über dem Skelett eines Hauses. Irgendwie hatte Magnus das Gefühl, dass es niemand eilig hatte, den Bau zu vollenden.
Einige Häuser am hinteren Ende des Gebiets waren bewohnt, und vor einem von ihnen blieb Magnus stehen und überflog das Protokoll der Befragung von Ísak Samúelsson, die Árni nach Gabríel Örns Tod durchgeführt hatte. Wieder waren Árnis Notizen nur unvollständig. Er hatte festgehalten, Ísak würde studieren, aber nicht, wo. Er lebte bei seinen Eltern; sein Vater, Samúel Davídsson, war Minister, zumindest noch im Januar, als das Gespräch stattgefunden hatte. Nach der friedlichen Revolution wohl eher nicht mehr.
Magnus stieg aus dem Wagen und ging zu dem einstöckigen weißen Haus. Es war durchdacht gebaut und bot einen schönen
Blick auf den Hafen. Man hätte hier gut wohnen können, wenn nicht hundert Meter weiter eine Baustelle gewesen wäre.
Er drückte auf die Klingel. Keine Reaktion. Er wartete eine Minute und versuchte es erneut.
Die Tür wurde von einer schmalen Frau geöffnet, die ein Kopftuch trug. Zuerst glaubte
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