Magyria 01 - Das Herz des Schattens
Band zwischen ihr und Mattim war derart stark, dass sie nicht weit kam. Als wären
ihre Fußgelenke mit schweren Ketten an dieses Haus gefesselt. Als wäre sie todkrank und nur dort gab es die rettende Arznei, nur dort … Sie wartete vor einem Laden darauf, dass ihr klopfendes Herz sich beruhigte.
In der Scheibe des Schaufensters gespiegelt, schaute Mattim sie an. Ihm war, als würde sein Herz auf einmal wieder schlagen, schnell und heftig. Die Stille in seiner Brust schmerzte in ihrer Gegenwart nicht mehr ganz so sehr, und allein deshalb hätte er stundenlang dastehen und sie ansehen können.
Sie drehte sich nicht sofort um. Dort in der Scheibe begegneten sich ihre Blicke.
Hanna, wollte er sagen. Nur ihren Namen. Stattdessen sagte er etwas ganz anderes.
»Kunun fand das nicht lustig«, begann er. »Dies ist sein geheimes Hauptquartier, von dem kein Mensch weiß. Erst recht nicht seine Opfer. Du könntest ihm die Polizei auf den Hals hetzen, wegen Réka. Er ist da etwas empfindlich. Wenn ich dir die Erinnerung an dieses Haus nicht sofort wegnehme, wird er es tun. Das hat er mir zumindest gesagt.«
»Warum hat er es nicht gleich getan?« Sie sprach zu dem Gesicht in der Scheibe, als würde sie sich mit der riesigen gelben Tasche im Schaufenster unterhalten.
»Anscheinend gibt es so eine Art Ehrenkodex unter Schatten«, erwiderte Mattim und sah sein Spiegelbild gequält lächeln. »Mein Opfer, dein Opfer. Ich soll es richten, wenn ich schon so dämlich war, dir so viel Blut abzuzapfen, dass du mich immer und überall finden kannst.«
»Findet Kunun überhaupt irgendetwas lustig? Besonders viel Humor scheint er ja nicht zu haben.«
»Lass uns ein Stück gehen«, schlug er vor. »Wir sind zu nah am Haus nach meinem Geschmack.«
Die beiden gingen nebeneinander her. Mattim hätte gerne
ihre Hand genommen, aber er wusste, dass er kein Recht dazu hatte. Auch nicht, sie zu küssen, obwohl er an kaum etwas anderes denken konnte. Allerdings war es ihm unmöglich, sie nicht anzusehen. Von der Seite her, damit es nicht allzu aufdringlich wirkte. Wahrscheinlich tat sie nur so, als ob sie es nicht merkte.
»Vielleicht sollte ich es wirklich machen. Du bringst dich in Gefahr, wenn du herkommst.«
»Kununs Vorschlag hat nur einen kleinen, logischen Fehler«, sagte sie. »Wenn du mich beißt, finde ich dich das nächste Mal noch besser.«
Mattim atmete tief durch und blieb stehen. »Genau darüber muss ich mit dir reden. Du bildest dir da etwas ein. Was unsere Gefühle füreinander angeht.«
Meine Seelengefährtin , sagte sein Herz. Meine Herzgefährtin. Meine Leibesgefährtin. Doch er hatte kein Herz mehr, dessen Gefährtin sie hätte sein können.
Es war nicht echt. Sie musste das wissen. Es war so verführerisch, zu glauben, dass es echt war, dass sie wirklich ihn meinte. Aber bis vor Kurzem kannte sie ihn noch gar nicht. Bei ihrer ersten Begegnung, dort im Fahrstuhl, hatte sie noch geglaubt, er wolle sie umbringen, und jetzt lief sie ihm hinterher.
Es konnte nicht echt sein.
»Nein«, flüsterte sie.
Es wäre so einfach gewesen, es anzunehmen. Aber er war nicht wie Kunun. Er hasste sich selbst mehr als genug, aber wenn er jemals werden sollte wie sein Bruder, dann war es dieses Leben nicht mehr wert, dafür anderen ihr Blut zu rauben. Vielleicht war er wirklich schon wie Kunun. Diese Bilder, die er in sich trug, die er niemals wieder loswerden würde … Wie sie drüben in Magyria die Flusshüter gejagt hatten. Gorans blutiger Mund … Das nächste Mal würde er vielleicht wirklich mitmachen. Was wusste er schon davon, was er tun würde? Er hatte sich damals auch geschworen,
lieber zu sterben, als jemanden zu beißen. Was konnte er Hanna geben? Was, außer Schmerz und Schrecken?
»Doch, Hanna.« Er zwang sich, das Gegenteil von dem auszusprechen, was er sagen wollte. »Wenn du dich wirklich daran erinnerst, dann weißt du, was ich bin. Dann weißt du, was ich dir angetan habe. Ich habe dir ein Stück deines Lebens geraubt. Und das suchst du nun in mir. Es ist ein Teil von dir, was du in mir suchst. Ich kann dir nicht geben, was du dir wünschst. Du meinst nicht mich, verstehst du? Egal, wer es gewesen wäre, der dich«, es kostete eine unglaubliche Mühe, das Wort auszusprechen, doch er zwängte es gewaltsam über seine Lippen, »gebissen hätte, du würdest glauben, dass du etwas für ihn empfindest.«
»Das stimmt nicht«, protestierte sie. Ihre braunen Augen kamen ihm extrem dunkel vor, ein Blick, in dem
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