Magyria 01 - Das Herz des Schattens
Bodennähe. Ihm war, als stünde er mit den Füßen im Wasser. Er dachte nicht einmal im Traum daran, unter diesen Umständen auf Schattenart durch die Tür zu gehen. Stattdessen hob er die Hand, um anzuklopfen - ließ sie dann aber wieder sinken. Was, wenn jemand ihn hörte, wenn er jemanden weckte? Leise, unendlich leise und vorsichtig drückte er die Klinke hinunter und schob die Tür auf.
Hanna lag nicht weinend im Bett, wo sie sich vielleicht besonders gut hätte trösten lassen. Sie saß am Schreibtisch und wandte ihm den Rücken zu. Gerade steckte sie etwas in einen Briefumschlag, klebte ihn zu und stand eilig auf. Jetzt erst sah er, dass sie nur ein kurzes Nachthemd trug, das nicht einmal ihre Knie bedeckte. Sie schrie nicht, als sie Mattim so unverhofft in ihrem Zimmer stehen sah, nur ihre Augen weiteten sich. Einen Moment stand sie reglos da, den Brief noch in der Hand, dann war sie auch schon bei ihm und schlang die Arme um seinen Hals, und er spürte ihre warmen Lippen auf seinen.
»Verzeih mir, Mattim!«, flüsterte sie. »Ich habe mich überschätzt, ich dachte, ich wäre immun …«
»Nein, mir tut es leid«, sagte er. »Ich hätte das alles nie zu dir sagen dürfen. Sei mir nicht böse, Hanna, bitte!«
Er wollte noch viel mehr sagen, aber er schwieg, sie beide schwiegen. Es genügte ihnen, einander zu halten, als wären sie nicht zwei, sondern nur noch eine Person, so eng miteinander
verbunden, dass nichts sie trennen konnte. Er atmete den Duft ihres Haars ein, ihrer Haut. Durch den dünnen Stoff ihres Nachthemds spürte er die Wärme ihres Körpers. Es stimmte nicht, dass er nicht zu atmen brauchte; das hier war zum Überleben nötig, zu einem Leben, das mehr war als ein bloßes Existieren im Dunkeln.
»Beiß mich.«
»Nein.« Er küsste ihre Stirn, ihre Augenlider, ihre Schläfen. Sein Mund berührte die verlockende Rundung ihrer Ohren. Er wollte seine Zähne nicht in diese weiche Haut schlagen, dieser Vollkommenheit Wunden zufügen, nie wieder … Er wollte nicht sein wie Kunun.
»Ich werde in der Nacht leben«, sagte er. »Es wird schon gehen. Ich fühle mich schon fast heimisch in der Nacht. Wenn ich das Tageslicht meide, brauche ich kein Blut.« Da war es wieder, das Unglück. Es kam zu ihm, während er den Arm um Hanna gelegt hatte und der Duft ihrer Haare und ihrer Haut ihm bewusst machte, wie lebendig sie war. Ich bin ein Schatten. Es gibt keinen Weg zurück. » Ich wäre damit zufrieden, in der Nacht zu leben.«
»Unsinn«, widersprach sie. »Die Szigethys würden sich wundern, wenn ich jede Nacht verschwinde. Ich kann nicht tagsüber schlafen, wenn ich mich um Attila kümmern muss. Außerdem möchte ich dir so gerne meine Welt zeigen, bei Tageslicht. Wir beide zusammen machen die Stadt unsicher! Wie soll ich dir Budapest zeigen, wenn alles geschlossen ist? Meine Lieblingsmuseen haben nachts bestimmt nicht auf. Willst du etwa durch Wände gehen?« Sie lachte.
»Du glaubst wohl nicht, dass ich das kann.«
»Doch, sicher.« Das belustigte Funkeln in ihren Augen verriet, wie sehr sie es bezweifelte.
»Ich will dich nicht beißen«, sagte er noch einmal. Er sprach gegen das Verlangen an, das in ihm aufgeflammt war, sobald er sie in den Armen hielt, sobald ihre Lebendigkeit ihn überflutete und überwältigte.
»Du musst«, sagte Hanna. »Ich will dich finden können.«
»Wir können auch so tun, als wären wir moderne Menschen, und ein Telefon benutzen, um uns zu verabreden«, schlug Mattim vor. »Ich habe dich schon einmal angerufen. Ich weiß jetzt, wie es funktioniert«, fügte er stolz hinzu.
Hanna schüttelte den Kopf. »Mattim«, sagte sie leise, »ich werde nicht zulassen, dass du in der Nacht lebst. Dass du dich dort wohler fühlst als im Tageslicht. Ich weiß, wer du bist. Du gehörst in die Sonne. Du darfst das Licht nicht aufgeben. Ich will nicht, dass du …« Sie stockte. »Ich habe die Dunkelheit gesehen, Mattim«, sagte sie. »Kununs Dunkelheit. Ich weiß, es war die Höhle, aber es war nicht nur das. Es war so finster … und er gehörte zu dieser Finsternis, die um uns war. So schwarz und dunkel und ohne einen Lichtblick … Du sollst nicht so enden, du darfst es nicht, ich werde es nicht zulassen! Ich will nicht, dass du dich an die Nacht gewöhnst und sie sich an dich, und irgendwann seid ihr nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Noch ein dunkler Prinz …«
Nachdenklich betrachtete er ihr Gesicht, ihre Augen, schimmernd wie dunkler Honig … Wie konnte er
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