Magyria 01 - Das Herz des Schattens
… Nein. Nein! Sie schüttelte die düsteren Gedanken ab, hakte sich bei dem Mädchen unter und ließ sich von ihm zum ersten verheißungsvollen Laden ziehen.
»Oh, das hier ist schön, ob mir das steht? Nein, das! Das ist viel zu teuer, oder? Aber es ist toll. Oder nein, das da!«
Während Réka in den Stapeln wühlte, Kleiderbügel herauszog und Hanna mit ihrer Begeisterung fast ansteckte, sah diese sich heimlich nach Mattim um. Er war ganz in der Nähe, das wusste sie. Er hatte ihr versprochen, dass er immer in der Nähe sein würde. Doch erst nachdem Réka in der Umkleidekabine verschwunden war, spürte sie auf einmal seine Gegenwart dicht neben sich. Sie drehte sich zu ihm um und seufzte.
»Hanna.« Mattim legte beide Arme um sie und drückte sie einmal ganz fest. In seinem Gesicht war nichts von Kunun.
»Was darf das Licht tun, um die Finsternis zu besiegen?«, fragte sie leise. »Lügen? Betrügen? Ein Mädchen in Gefahr bringen, das nichts ahnt?«
Mattim schüttelte den Kopf. »Sie ist schon in Gefahr«, sagte er. »In größerer Gefahr als jeder andere Mensch in Budapest. Außer dir vielleicht.«
Hanna lehnte sich an ihn. »Geh lieber«, sagte sie dann. »Réka könnte bockig werden, wenn wir zu dritt sind. Dann läuft sie vielleicht gleich zu ihm.«
Er nickte. »Wir werden auf sie aufpassen, so gut wir können.« Er beugte sich vor und küsste sie, schnell und flüchtig, und doch lag in dieser kurzen Berührung so viel, dass ihr Herz vor Glück erschauerte. Sie wandte sich um, gerade, als Réka aus der Kabine kam.
»Steht mir das, was meinst du?« Die junge Ungarin zog die Stirn kraus, selbstkritisch und gleichzeitig euphorisch. Die schwarze Bluse mit Spitzenbesatz am Ausschnitt wirkte
ebenso edel wie verspielt, aber auch ein wenig altmodisch. Eigentlich war es kein Kleidungsstück für ein Mädchen in diesem Alter. Atschorek hätte so etwas tragen können; aus irgendeinem Grund erinnerte das Muster Hanna an die Vampirin. Verschlungen und geheimnisvoll unterstrich es Rékas dunklen Typ, aber Hanna hätte sich gewünscht, sie hätte nicht immer nur nach schwarzen Sachen gegriffen. Außerdem lag der Hals frei und offen. Etwas Flauschiges mit Rollkragen wäre ihr lieber gewesen.
»Wunderschön«, sagte sie. »Du bist so hübsch, Réka.«
»Wirklich?« Die Augen der Vierzehnjährigen leuchteten. »Aber es ist echt teuer … Immerhin hab ich bald Geburtstag, vielleicht …?«
Sie brauchte eine Einkaufstasche, die Réka festhalten würde, als gelte es ihr Leben.
»Ich hab versprochen, ich kauf dir heute was. Wenn es das Teil hier sein soll? Dann kriegst du eben zum Geburtstag nur eine Kleinigkeit.«
»Super! Dann kann ich es an meinem Geburtstag schon anziehen.« Glücklich verschwand Réka wieder hinter dem Vorhang.
Hanna blickte sich unwillkürlich nach Mattim um. Er stand in einem anderen Winkel des Geschäfts und unterhielt sich mit einer Verkäuferin. Die Kappe hatte er abgenommen, sein blondes Haar glänzte. Selbst von hier aus konnte sie erkennen, wie sein Lächeln strahlte und wie die blutjunge Verkäuferin es erwiderte. Fast war es, als ginge ein Glanz von ihm aus, eine Aura aus Licht … Hanna biss sich auf die Lippen. Es war ihre Sehnsucht, die ihm das Licht andichtete, das er verloren hatte. So sehr wünschte sie sich, er möge alles zurückgewinnen, alles, was er vermisste, was man ihm genommen hatte. Sie konnte sich regelrecht vorstellen, wie er dort stehen und alles überstrahlen würde, so dass jeder zu ihm hinblickte … War es so, das Licht? Oder würde es immer nur dieses Lächeln sein, das ihm niemand
nehmen konnte, außer vielleicht Kunun mit einem unumkehrbaren Sieg?
»Ich bin fertig. Willst du mir die Bluse echt kaufen?« Réka trat neben sie, und Hanna riss sich von Mattim los, was ihr schwer genug fiel.
»Ja, klar, habe ich doch gesagt.«
Sie musste sich beeilen. Das nächste Ziel, das Réka vorschlagen würde, führte sie vielleicht schon zu Kunun. Bestimmt war er irgendwo hier, und ihre Instinkte würden Réka zu ihm leiten. Dann hätte sie bald genug von Hannas Freundschaft.
»Wo kommt Kunun eigentlich her?«, fragte Hanna, während sie an der Kasse anstanden.
»Wie, wo kommt er her?«
»Ich meine, wo ist er geboren? In welchem Land? Bist du da gar nicht neugierig?«
Rékas Miene verdüsterte sich. »Bestimmt hat er mir das schon erzählt.«
Sag es ihr. Das Diktiergerät. Wenn sie neugierig genug ist, wird sie es selbst einschalten und später abhören. Sie muss
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