Magyria 01 - Das Herz des Schattens
den kalten Stein gefesselten Hände waren taub.
War es nicht schon immer mein Schicksal, in diesem Haus zu sterben? Sie blies ihren Atem in feinen Wölkchen in die frostige Luft. War das nicht von Anfang an mein Schicksal?
Szigethy-Blut für die Stadt … Aber über sie sagte die Prophezeiung nichts. Rékas Blut oder meins. Mein Blut oder Rékas. Vielleicht hatte sie als Einzige jemals die Wahl gehabt. Nur wie hätte sie etwas anderes wählen können, als in Mattims Nähe zu sein und immer wieder herzukommen, trotz der Gefahr?
Der junge Prinz starrte nach oben auf den von Kabeln durchzogenen Boden des Aufzugs. Dunkel. Ja, dunkel genug. Alles hier unten war ausreichend finster. Er brauchte den Fahrstuhl nicht.
Mattim kehrte um und trat schnell durch den Durchgang in den zweiten Kellerraum, in dem die Lampen und der Käfig aufbewahrt wurden. Zwar konnte er sie nicht sehen, dafür aber ertasten. Er kletterte hinauf und richtete sich vorsichtig auf, die Hände nach oben gestreckt, bis er die Decke anfassen konnte. So niedrig, dass er, wenn er auf dem Käfig stand, den Rücken krümmen musste. Mattim ging in die Knie, spannte die Muskeln an und sprang.
Er knallte nicht mit dem Kopf gegen die Decke. Als würde er aus dem Wasser auftauchen, fuhr er durch die dunkle Schicht hindurch, stützte sich mit den Armen ab und zog sich ganz aus dem Fußboden der Eingangshalle heraus.
Mit einem Satz war er in der Nische zwischen den Briefkästen und einer vorspringenden Säule und blickte sich um.
Auch in Budapest hatte der Morgen schon begonnen. Im Hof leise Stimmen. Rasch spähte er um die Ecke und fuhr sofort wieder zurück. Mit einem Blick hatte er die Lage erfasst: Hanna gefesselt am Boden, vier Wächter daneben. Kunun war nicht da, Atschorek auch nicht. Das war gut; gegen seine beiden Geschwister zusammen hatte er keine Chance. Doch die vier Schatten waren mit Sicherheit keine hilflosen Dörfler irgendwo aus der magyrianischen Provinz. Auch wenn er sie nur vom Sehen kannte und nie mit ihnen
geredet hatte, musste er davon ausgehen, dass sie - vor seiner Zeit - in der Wache von Akink gewesen waren. Krieger. Kunun hätte Hanna niemals Leuten überlassen, die unfähig waren.
Hastig ging Mattim seine Möglichkeiten durch. Sich zeigen und sagen: He, was macht ihr da mit meiner Freundin, und dafür bringe ich euch jetzt kurz um?
Aber sie waren Schatten. Auch mit einem Schwert hätte er sie nicht überwältigen können, weder schnell noch langsam. Sie würden das Gesicht vor Schmerz und Wut verziehen, wieder aufstehen und ihn schlussendlich ergreifen. Ganz zu schweigen davon, dass sie Hanna in ihrer Gewalt hatten.
Letztlich gab es nur eines, worin er ihnen mit Sicherheit voraus war: das Spiel mit dem Schatten. Nicht dumm von ihnen, dass sie Hanna an den Löwen gefesselt hatten. Der Hof war nicht unterkellert. Selbst wenn Mattim schnell genug bei ihr war, würde es zu lange dauern, die Fesseln zu lösen und mit ihr zu verschwinden. Es gab nicht viele Möglichkeiten, eigentlich nur eine. Ins Freie zu treten und zu sagen: Hier bin ich, was erwartet Kunun von mir?
Er hob den zerbrochenen Besen auf, der an der Wand lehnte, und schlüpfte durch den Fußboden zurück in den Keller. In dem kleinen Raum, in dem Atschorek die Lampen aufbewahrte, zog er die Schuhe aus, streifte die Socken ab und tauchte sie ins Öl.
Hanna bewegte die Füße hin und her, malte kleine Kreise und Buchstaben, nur um in Bewegung zu bleiben. Ich gebe nicht auf, noch lange nicht … Mitleidslos kroch die Kälte durch ihren Körper. Was wollte Kunun, gefrorenes Blut? Sie saß vielleicht eine Viertelstunde hier, aber es kam ihr bereits vor, als wären es Stunden. Wenn der Vampir nicht an den Knebel gedacht hätte, hätte sie die ganze Nachbarschaft zusammengeschrien … Ein schwacher Laut entschlüpfte ihrer
Kehle, als sie auf einmal Mattim im Eingang zum Hof stehen sah. In jeder Hand trug er eine der Besenstielhälften, die vom Schwertkampf mit Atschorek übrig geblieben waren. Um die Spitzen hatte er irgendetwas gewickelt, was lichterloh brannte.
»Mattim! Mach keine Dummheiten!« Der älteste Schatten ging ein paar Schritte auf ihn zu. Indem er die behelfsmäßigen Fackeln vor sich herschwenkte, kam der Prinz in den Hof. Nicht langsam und vorsichtig, sondern wie der Blitz schnellte er vorwärts, trieb die Vampire von sich fort und stand schon neben Hanna. Er warf ihr nur einen kurzen Blick zu, die Augen wild und dunkel in seinem hellen Gesicht.
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