Magyria 01 - Das Herz des Schattens
zum Wohnzimmer öffnete.
»Entschuldigung. Ich habe nicht geklopft, weil ich dachte, Sie wären nicht zu Hause.«
»Nein, das macht doch nichts. Komm rein.« Ihr herzliches
Lächeln schien wirklich echt, aber Hanna hatte das Gefühl, dass sie damit ihre Verlegenheit überspielen wollte. Sie hatte ihre Gastmutter ertappt - nur wobei?
Mónika zog die Vitrine wieder auf. »Möchtest du einen Schluck Palinka?«
Ich soll nicht denken, dass sie hier Schnaps trinkt , dachte Hanna. Sie will nicht, dass ich sie für eine Alkoholikerin halte. Die junge Frau zögerte. Eigentlich wollte sie nichts trinken, aber wenn sie verneinte, musste sie in ihr Zimmer gehen, und es würde immer zwischen ihnen stehen, eine Frage, ein Verdacht. Deswegen nickte sie.
»Ja, gerne. Hab ich noch nie probiert.«
Mónika hatte geweint. Hanna konnte es an ihren Augen sehen, an dem fleckigen Gesicht. Ihre Gastmutter schenkte ihr ein, in ein kleines Kristallglas, das Hanna an das Geschirr ihrer Oma erinnerte.
»Danke.« Sie nippte nur. Der süße Geschmack der Aprikosen brannte auf ihrer Zunge.
Auch Mónika trank nur einen winzigen Schluck.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Hanna vorsichtig.
»Ja, sicher. Was sollte nicht in Ordnung sein?«
Sie fühlte sich so hilflos. Natürlich war überhaupt nichts in Ordnung, doch was sollte sie tun? Sie war hier nur das Au-pair-Mädchen, nur die Gasttochter. Manchmal kam ihr Mónika fast wie eine Gleichaltrige vor, aber dass sie miteinander lachen konnten, was hieß das schon?
In winzigen Schlucken trank Hanna von dem Likör. Der Duft von Aprikosen war das Einzige, was sie daran mochte. Ansonsten fand sie ihn ekelhaft süß und scharf. Alkohol war noch nie ihr Ding gewesen.
»Ich trinke nachmittags sonst nie«, beteuerte Mónika. »Nur heute, ich dachte, ich feiere ein bisschen, weil …« Auf einmal fing sie wieder an zu weinen. Sie versuchte es zu unterdrücken, aber es klappte nicht. Die Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, und ein großer Tropfen bildete
sich an ihrer Nase. Hastig suchte sie nach einem Taschentuch und schnäuzte hinein. Verlegen saß Hanna dabei und tat, als bemerkte sie nichts. Noch nie war ihr so deutlich bewusst gewesen, dass dies nicht ihre Familie war. Nicht ihre Mutter, nicht ihre Freundin. Sie hätte am liebsten einen Arm um die weinende Frau gelegt, doch das signalisierte eine Nähe, die es gar nicht gab, die sie sich höchstens wünschte.
Sie wusste ja nicht einmal, warum Mónika weinte.
»Ich dachte, es würde mich glücklich machen, wieder arbeiten zu gehen«, sagte Mónika schließlich. »Aber das Glück«, sie legte die Hand über ihr Herz, »muss von hier kommen.«
Hanna wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Und es war mit Sicherheit nicht der richtige Augenblick, um auch noch über Réka zu reden. Nur wann hatte sie schon die Gelegenheit, mit ihrer Gastmutter unter vier Augen zu sprechen? Vielleicht war es auch der Likör, der ihr mehr Mut verlieh, als eventuell ratsam war.
»Und Réka?«, fragte sie. »Verlieren Sie Ihre Tochter nicht ein bisschen aus dem Blick?«
»Réka macht mir im Moment am wenigsten Kummer.«
»Mónika, ganz im Ernst. Sie ist erst vierzehn, aber ich glaube, sie hat einen Freund. Der noch dazu einige Jahre älter ist als sie.«
»Und?«
Hanna konnte es nicht fassen, dass Mónika so gelassen reagierte. Sie hätte empört sein müssen, alarmiert, erschrocken.
»Ich habe das Gefühl, dass Réka ernsthafte Probleme hat«, sagte sie.
»In ihrem Alter sind alle Mädchen verliebt«, behauptete Mónika.
Hanna konnte deutlich spüren, dass das Gespräch damit beendet war.
So blind Mónika für die Probleme ihrer Tochter auch war, jedem anderen, der halbwegs offen dafür war, mussten sie aufgefallen sein. Als Hanna an diesem Morgen Attila abgeliefert hatte, verrieten ihr die Geräusche aus der Küche, dass die Putzfrau zugange war. Magdolna war tatsächlich vor einigen Tagen wiedergekommen. Noch lieber hätte Hanna zwar mit Mária geredet, aber vielleicht konnte sie die alte Dame dazu bringen, eine Nachricht weiterzuleiten.
Hanna öffnete Rékas Zimmertür und war mit ein paar raschen Schritten bei dem Geheimversteck. Ihre Hände zitterten vor Aufregung, als sie das Foto suchte; ja, es war noch da. Genauso wie ihr schlechtes Gewissen. Nach wie vor fühlte es sich schrecklich an, hinter jemandem her zu schnüffeln, auch wenn man sich einredete, dass man es nur gut meinte.
Mit dem Foto in der Hand eilte Hanna die Treppe hinunter.
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