Magyria 01 - Das Herz des Schattens
interessieren würde. In dem bloß Sätze drinstehen wie: Heute habe ich ihn zwei Minuten lang gesehen .«
Réka kicherte. »Warum dachtest du, du würdest sterben?«
»Ich hab damals halt viel an den Tod gedacht.«
Das Mädchen schwieg eine Weile. »Und ich«, sagte sie leise, »ich denke viel daran, wie es wohl ist, verrückt zu sein. Wie es sich anfühlt. Ob man es merkt, wenn es so weit ist. Ich schätze nicht, dass man es merkt, oder? Weil man dann ja alles für normal hält, was man sich einbildet. Aber wenn man es merkt - und weiß -, das ist schrecklich.«
»Du bist nicht verrückt«, sagte Hanna.
»Ach, nein? Und was war heute?« Sie atmete tief durch. »Deine Geschichte. Was war dann? Wie hast du Maik auf
dich aufmerksam gemacht? Er hat nicht zufällig dein Tagebuch in die Hände bekommen und sich gedacht: Hey, diese ganzen Xe und Romeos, das bin ja wohl ich?«
Hanna lachte leise, obwohl ihr irgendwie gar nicht nach Lachen zumute war. »Hin und wieder hatte er eine Freundin. Zum Glück nie sehr lange. Trotzdem, was meinst du, was ich da gelitten habe. Ich dachte, die Welt geht unter. Ich hab kaum noch gegessen. Dafür waren meine Gedichte sehr schön. Ja, selbst heute noch, wenn ich sie mal lese, finde ich sie ganz gut. Tja, ich wäre gern so schön gewesen wie meine Gedichte, aber ich war’s nicht. Und dann, bei irgendeiner Abschlussfeier in der Schule, hat eine Freundin mich vor ihn hingeschubst und gesagt: So, nun tanzt mal.«
»Sie wusste es? Ich dachte, du hast ein solches Geheimnis darum gemacht.«
»Dachte ich auch. Jedenfalls hat Maik dann tatsächlich mit mir getanzt. Obwohl ich mich vor Schreck kaum rühren konnte, fand er’s wohl ganz gut, denn danach hat er den ganzen Abend nur noch mit mir getanzt. Auf einmal waren wir ein Paar.«
»Schön«, sagte Réka mit trauriger Stimme.
»Was ist mit dir?«, fragte Hanna vorsichtig. »Und Kunun?«
»Kunun.« Das Mädchen flüsterte den Namen vor sich hin. »Er ist überall, wo ich hingehe. Wenn du ihn nicht auch gesehen hättest, an der Brücke, würde ich fast fürchten, dass ich ihn mir bloß einbilde.«
»Er ist überall, wo du hingehst? Er verfolgt dich?«
»Nein. Er verfolgt mich nicht. Ich gehe irgendwo hin, und er ist schon da. Wir verabreden uns nie. Ich habe nicht mal seine Nummer. Seit März sind wir zusammen, und ich kann ihn nicht anrufen! Wenn ich ihn treffen möchte, muss ich nur irgendwo hingehen, worauf ich Lust habe, und meistens ist er genau dort.« Sie wandte Hanna das Gesicht
zu, um den ungläubigen Ausdruck in deren Miene nicht zu verpassen. »Ich hab dir doch gesagt, es ist verrückt.«
»Und heute? War er auch da? Im Zoo? Hast du dich mit ihm getroffen, als wir dich gesucht haben?«
Réka ließ sich wieder lange Zeit mit der Antwort. Schließlich sagte sie: »Ja, ich glaube.«
»Was soll das heißen, du glaubst es? War er da oder nicht? - Ach. Du kannst dich nicht erinnern.«
»Nein.«
»Die anderen Male wusstest du doch wenigstens, ob du ihn gesehen hast. Sonst könntest du nicht behaupten, dass er überall auftaucht. Und diesmal? Nichts? Was ist denn das Letzte, woran du dich erinnerst?«
»Die Fische. Diese komischen Fische, die im Sand steckten.«
»Du machst mir Angst«, flüsterte Hanna. »Kannst du dir nicht etwas anderes einfallen lassen, um mich zu ärgern?«
»Erzähl mir von Maik«, sagte Réka. »Erzähl mir mehr. Du musst wahnsinnig glücklich gewesen sein, als dein Traum in Erfüllung gegangen ist.«
»Merkwürdig, aber daran kann ich mich kaum erinnern. Ich weiß genau, wie es war, als ich so unglücklich war. Wie ich auf meinem Bett gelegen und in mein Tagebuch gekritzelt habe. Die Zeit mit dem echten Maik dagegen - im Nachhinein kommt es mir vor, als wäre ich gar nicht richtig dabei gewesen. Es war, als wäre da ein fremdes Mädchen, das plötzlich mit diesem Jungen zusammen war. Der Junge war irgendwie auch ein Fremder. Nicht der Traum, den ich so gut kannte. Sondern ein Mensch, über den ich nichts wusste. Es war sehr seltsam. Ich bin mit zu seinen Sportveranstaltungen gefahren und hab mich eigentlich nur die ganze Zeit gewundert. Es kam mir vor, als würde ich eine Rolle spielen, auf die ich mich ganz lange vorbereitet hatte. Aber nun, da ich an der Reihe war, hatte ich den Text vergessen.«
»Vielleicht bist du ja auch ein bisschen verrückt?« Réka klang wieder etwas munterer.
»Es war, als würde ich für eine Weile in einer anderen Welt leben. In seiner Welt. Tja, und für ihn
Weitere Kostenlose Bücher